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Zunächst
einmal möchte ich mich herzlich bedanken für die Einladung und für
die Gelegenheit, aus diesem Anlaß und in diesem Rahmen zu Ihnen
sprechen zu dürfen. Die wichtigen
Diskussionen und Aktivitäten verschiedener Gruppen zum „Erlaßjahr
2000“ - auch innerhalb der Kirchen - sollten auch Anlaß sein, sich
unseren Anteil der Schuld am Elend der Dritten Welt bewußt zu machen.
Ich selbst sehe die Schuld des Nordens an der Verschuldung des Südens
vor allem auf drei Ebenen begründet:
„Im 16.
Jahrhundert wurde um die Zinsfrage außerordentlich heftig
gerungen. Um 1600 schließlich wurde auf evangelischer Seite
Luthers prinzipelle Absage an das Zinsnehmen
unauffällig korrigiert und der entstehenden Geldwirtschaft Rechnung
getragen. Die zunehmende Verquickung von Staat und Wirtschaft, das
evangelische Staatskirchentum und die
staatlichen Bindungen der theologischen Fakultäten haben das Thema Zins
so nachhaltig in der Versenkung verschwinden lassen, daß viele
protestantische Pfarrer heute außer dem mißverstandenen Gleichnis von
den anvertrauten Talenten (Matthäus 25, 27) hierzu keinerlei
Assoziationen mehr haben und im Zins insbesondere kein theologisches
Problem mehr sehen. - Demgegenüber muß man der katholischen Kirche
bescheinigen, daß sie viel länger und nachhaltiger um die Zinsfrage
rang.“[3]
... „Die ersatzlose Streichung des Zinskanons im neuen
Kirchengesetzbuch von 1983 markiert das Ende des katholischen
Zinsverbots.“[4] Die
Verdrängung der Zinsproblematik durch die Wirtschaftswissenschaften Bezeichnenderweise
bin ich selbst auf die Zinsproblematik nicht im Rahmen meines Ökonomiestudiums
und meines drei Jahrzehnte währenden wirtschaftswissenschaftlichen
Lehr- und Forschungszusammenhangs gekommen, sondern wurde erst vor
einigen Jahren von Nicht-Fachökonomen dazu angeregt, mich näher damit
zu beschäftigen - allen voran durch Margrit Kennedy (und ihr Buch
„Geld ohne Zinsen und Inflation“[7])
sowie durch Helmut Creutz (und sein Buch „Das Geldsyndrom“[8]).
Auf ihre Frage, ob ich mich denn schon einmal näher mit dem Werk von
Silvio Gesell[9]
und seiner grundlegenden Zinskritik beschäftigt hätte, mußte
ich passen. Aber die Anregungen, die ich später (im Rahmen einer einwöchigen
Zukunftswerkstatt zum Thema „Geld und Zins“) in Steyerberg durch
beide bekommen habe, waren für mich Ansporn, das Versäumte im Rahmen
eines Forschungssemesters nachzuholen. Und ich muß rückblickend sagen,
daß ich dabei unglaublich fündig geworden bin und enorm viel dazu
gelernt habe. Das Thema „Zins“ ließ mich seither nicht mehr los,
nachdem ich glaubte erkannt zu haben, welch teuflische Dynamik im
Zinssystem angelegt ist. Ich spreche mittlerweile vom „Zins als Krebs
des sozialen Organismus“ oder vom „Zinssatz als sozialem
Sprengsatz“. Das klingt sehr drastisch, aber es ist nicht übertrieben.
Warum, will ich hier mindestens kurz andeuten. (Ausführlicher werden
diese Zusammenhänge in meinem Buch „Der Nebel
um das Geld“ entwickelt.) Zins
und monetärer Teufelskreis Wir haben uns
alle daran gewöhnt, daß Geld scheinbar von selbst wächst und wächst
und wächst, wenn man es zinstragend anlegt - insbesondere dann, wenn
die Zinserträge immer wieder auf die schon vorhandene Geldanlage drauf
gepackt und ihrerseits mit verzinst werden. Dann ergibt sich das, was
man „Zinseszins“ nennt und was zu einem exponentiellen Wachstum, das
heißt zu einem beschleunigten Anwachsen des Geldvermögens führt.
Jeder kennt die entsprechenden Kurven oder Grafiken, die einem von
Banken und Versicherungen vorgelegt werden, wenn es um Geldanlagen geht.
Aber kaum jemand macht sich Gedanken darüber, was diesem Wachstum überhaupt
zugrunde liegt und wohin denn diese Entwicklung auf Dauer treibt. Was auf der
einen Seite zu Zinserträgen führt, muß ja auf der anderen Seite
irgendwo an Zinslasten aufgebracht und erwirtschaftet werden. Wachsende
Geldvermögen finden immer ihr Spiegelbild in wachsender Verschuldung,
und mit jeder Verzinsung wachsen die Geldvermögen weiter an und drängen
zu entsprechend neuen Geldanlagen - und also auch zu wachsender
Verschuldung an anderer Stelle. Daraus ergibt sich das, was Helmut
Creutz den „monetären
Teufelskreis“
nennt (treffender wäre der Ausdruck „Teufelsspirale“):
ein immer schnelleres wechselseitiges Sich-Hochschaukeln
von Geldvermögen und Verschuldung. Gesamtwirtschaftlich betrachtet können
die sich daraus ergebenden wachsenden Zinslasten bzw. Zinserträge nur
aufgebracht werden, wenn das Sozialprodukt entsprechend mit wächst.
Anders ausgedrückt: Der Zins setzt die Wirtschaft unter einen
permanenten Wachstumszwang. Viele sehen
deshalb im Zins einen wesentlichen Motor des Wirtschaftswachstums und
werten dies als positiv. Eine einfache Rechnung sollte sie indes stutzig
machen, jedenfalls was die langfristigen Konsequenzen der Dynamik des
Zinseszinses angeht. Die Rede ist vom sogenannten „Josephs-Pfennig“,
von der Frage nämlich, auf welchen Betrag denn ein Pfennig angewachsen
wäre, wenn ihn Joseph zu Christi Geburt festverzinslich zu 5% angelegt
hätte (vorausgesetzt, der Pfennig hätte damals schon als Geld
existiert, und es hätte weder Inflation noch Währungsreformen noch
irgendeine Besteuerung des heranwachsenden Geldvermögens oder der
Zinserträge gegeben). Mit Hilfe der Zinseszins-Formel läßt sich diese
Rechnung auf jedem Taschenrechner durchführen, und jedesmal, wenn
Student(inn)en in meinen Kursen das zum
erstenmal tun, trauen sie ihren Augen oder ihrem Rechner nicht oder
meinen, daß sie wohl selbst einen Fehler gemacht haben müssen, so
unermeßlich groß ist die Zahl an Pfennigen, die dabei herauskommt. Um sich diese Zahl besser vorstellen zu können, kann man sie zum Beispiel umrechnen in Goldkugeln (auf der Grundlage des jeweils geltenden Goldpreises). Ich habe mir das Ergebnis dieser Rechnung bezogen auf einen Stichtag 1990 gemerkt:
Eine
unglaubliche, unvorstellbare Zahl, wo doch die ganze Erde nur zu einem
geringen Bruchteil aus Goldvorkommen besteht. Aber die Rechnung stimmt!
Und inzwischen wäre die Zahl noch viel größer, weil sich der Betrag
von Tag zu Tag mit ungeheurer Beschleunigung vermehrt. Ich habe es
aufgegeben, die Rechnung täglich auf den neuesten Stand zu bringen -
und ich habe es ehrlich gesagt auch vorher nicht getan. Allein diese
eine Rechnung hat mich zutiefst erschrocken. Sie müßte allen Kindern
in der Schule - und auch allen Erwachsenen - vorgelegt werden und Anlaß
sein, über die Dynamik des Zinseszinses und ihre Konsequenzen zu
diskutieren. Die
langfristige Destruktivität des Zinssystems In einer Welt
begrenzter Ressourcen und Absatzmärkte kann das Wachstum des
Sozialprodukts auf Dauer unmöglich mit dem Tempo mithalten, das der
Zins ihm abfordert. Es muß früher oder später - im Laufe einiger
Jahrzehnte - zu einem sich verschärfenden Konflikt zwischen
exponentiell anwachsenden Zinslasten und nicht entsprechend mit
wachsendem Sozialprodukt kommen, mit der Konsequenz, daß der Zins einen
immer größeren Teil des Kuchens Sozialprodukt auffrißt. Dem sozialen
Organismus einer Wirtschaft werden auf diese Weise immer mehr
Lebensgrundlagen entzogen. Und der wachsende Tumor der Zinslasten drückt
unvermeidlich immer mehr auf einzelne Teile des Organismus und stört
oder zerstört sie in ihrer Funktion - bis schließlich der Organismus
als Ganzes in Destruktion verfällt. Wie wirkt sich nun dieser wachsende
Druck auf einzelne Teile des Gesamtsystems aus: auf Wirtschaft, Umwelt,
Gesellschaft, Staat und Dritte Welt? Der
Zins als Verursacher oder Verstärker von Krisen Die Unternehmen
einer Wirtschaft geraten bei nicht mehr hinreichend wachsenden Erlösen
in die Schuldenklemme und geraten unter immer stärkeren Druck, ihre
Kosten zu senken, allen voran die Lohnkosten und die für Umweltschutz -
mit der Folge wachsender Arbeitslosigkeit und wachsender Umweltbelastung.
Während sich die einen noch durch Vergrößerung der Unternehmen (zum
Beispiel durch Fusionen) retten, werden die anderen auf der abwärts
laufenden Rolltreppe der Konkurrenz um so schneller in den Abgrund des
Konkurses gestürzt. Überschuldete private
Haushalte gleiten in wachsendem Maße ins soziale Elend ab. Der
verschuldete Staat
kann sich noch eine ganze Weile länger über Wasser halten,
durch wachsende Neuverschuldung, um damit die alten Schulden zu
bedienen, und zur Not durch zusätzliche Geldschöpfung, die in die
Inflation treibt. Aber irgendwann wird entweder die Währung
zusammenbrechen, oder es wird vorher die Notbremse drastischer Sparmaßnahmen
gezogen, die in der Regel vor allem die sozial Schwächeren trifft und
so die sozialen Spannungen, die schon durch die Arbeitslosigkeit
gestiegen sind, noch zusätzlich erhöht. Vom
Zinssystem profitieren nur die Reichen Die sozialen Spannung
werden noch durch einen weiteren Aspekt des Zinssystems verschärft, nämlich
durch eine von ihm bewirkte Umverteilung von unten nach oben - sowohl
innerhalb der einzelnen Ländern wie auch global zwischen Süden und
Norden. Ich will hier nur kurz auf die erste Art der Umverteilung
innerhalb eines Landes eingehen, die wesentlich zur „Krise der Gesellschaft“
im Sinne wachsender Ungleichverteilung
und Polarisierung beiträgt. (Die Umverteilung von Süden nach
Norden wird im Anhang ausführlicher behandelt.[11]) Um es als These
vorweg zu nehmen: Das Zinssystem pumpt täglich und stündlich auf
unsichtbare und den meisten Menschen unbewußte Weise Geld von ungefähr
85% der Einkommensbezieher hoch zu den 15% der Reichen und Superreichen.
Es bildet einen wesentlichen Hintergrund dafür, daß die Reichen immer
reicher und die Armen (mindestens relativ, wenn nicht gar absolut) immer
ärmer werden, das heißt dafür, daß sich die Gesellschaft immer mehr
polarisiert. Wie geschieht das innerhalb der entwickelten Industrieländer? Die zinsbedingte
Umverteilung von unten nach oben zeigt sich bei Gegenüberstellung von
Zinserträgen und Zinslasten, bezogen auf unterschiedliche
Einkommensschichten. Zinslasten tragen dabei nicht nur diejenigen, die
sich verschuldet haben und dafür sichtbare Zinsen zahlen müssen,
sondern auf unsichtbare Weise auch alle Konsumenten. Denn in jedem Preis
für Konsumgüter steckt ein
bestimmter Anteil an Zinskosten, die die Unternehmen für das
aufgenommene Fremdkapital (und sogar für das eingesetzte Eigenkapital)
berechnen. Offizielle Statistiken darüber gibt es bezeichnenderweise
nicht, aber wohl begründete Schätzungen von Helmut Creutz kommen zu
dem Ergebnis, daß die unsichtbaren Zinslasten durchschnittlich 1/3 der
Konsumgüterpreise ausmachen. Mit jedem Kauf im Supermarkt oder sonstwo
zahlen wir also - ohne daß sich die meisten dessen bewußt sind - im
Durchschnitt 1/3 unsichtbare Zinsen. Während sich
also die kleinen und mittleren oder auch noch die größeren Sparer über
ihre jährlichen Zinserträge in der einen Tasche freuen, merken sie gar
nicht, daß ihnen ein oftmals viel größerer Betrag an unsichtbaren
Zinslasten aus der anderen Tasche herausgezogen wird - und sie unter dem
Strich zu den 85% der Verlierer des Zinssystems gehören. Nur bei
wenigen sind die Geldvermögen und die daraus fließenden Zinserträge
so groß, daß sie die sichtbaren und unsichtbaren Zinslasten mehr oder
weniger übersteigen, und dies zum Teil in Ausmaßen, die jensneits
des normale
Vorstellungsvermögens liegen. (Eine Erbin des Quandt-Konzerns
zum Beispiel bezog schon vor Jahren täglich 650 000 DM an Zinserträgen![12]
Und sie ist bei weitem nicht der reichste Mensch in Deutschland,
geschweige denn in der Welt.) Die
wachsenden Zinsen drücken immer mehr Wenn nun aber
der Kuchen des Sozialprodukts auf Dauer nicht in gleichem Maße wächst
wie die Zinslasten bzw. Zinserträge, dann ist klar, daß die 15% der
Zinsgewinner mit ihren exponentiell wachsenden Zinserträgen sich ein
prozentual immer größeres Stück aus dem Kuchen herausschneiden, noch
ehe dieser auf dem Tisch der Gesellschaft zur Verteilung serviert wird.
Was also für den großen Rest von 85% der Einkommensbezieher zur
Verteilung übrig bleibt, wird immer weniger, und (scheinbar)
alle müssen sparen, zurückstecken, den Gürtel enger schnallen und
sich mehr anstrengen - selbst bei immer noch wachsendem Sozialprodukt;
ein scheinbares Paradox, das wir seit einigen Jahren auch in Deutschland
erleben. Der Gestaltungsspielraum von Politik wird dadurch - auf eine für
die Demokratie bedenkliche und bedrohliche Weise - immer weiter
eingeschränkt. Und die
Schuldenkrise der Dritten
Welt? Sie ist sicherlich nicht nur durch den Zins verursacht,
sondern hat ganz wesentlich historische Wurzeln im Kolonialismus und hängt
- neben internen Faktoren - zusammen mit der Struktur des
kapitalistischen Weltmarkt und der dadurch bedingten jahrzenhntelangen
Verschlechterung der Austauschverhältnisse („terms
of trade“). Aber das Zinssystem hat die
dadurch verursachten Probleme der Dritten Welt noch gewaltig verschärft. Für all die
hier nur kurz angedeuteten Krisentendenzen brauchte es gar keine zusätzlichen
Ursachen. Allein das
Zinssystem und seine Dynamik reichen aus, um diese Krisen hervorzutreiben
und zu verschärfen. Das ist jedenfalls die These der Zinskritiker, die
sich wesentlich auf die von Silvio Gesell gelegten Grundlagen beziehen
und diese weiterentwickelt haben. Ungeachtet dessen sprechen die
Vertreter der herrschenden Wirtschaftslehre vom Zins als einem
wesentlichen Regulator für die „optimale Allokation der
Ressourcen“... Silvio
Gesells „Freiwirtschaftslehre“: Die
Befreiung der Gesellschaft vom Zins Silvio Gesell,
dessen Namen Herr Dr. Goldstein in seinem Diskussionsbeitrag ja auch
schon würdigend erwähnt
hat, war selbst kein Fachökonom, und er bzw. seine Lehren blieben auch
aus den akademischen Wirtschaftswissenschaft
durch ein ganzes Jahrhundert hindurch ausgegrenzt. Das spricht aber
nicht gegen ihn und die von ihm begründete „Freiwirtschaftslehre“,
sondern gegen die Wirtschaftswissenschaft. Ich selbst habe es mir
dennoch nicht nehmen lassen, mich mit seinem Werk auseinanderzusetzen,
und bin zu der Einschätzung gekommen, daß Gesell schon zu Beginn des
Jahrhunderts geradezu geniale Einsichten in die Problematik des
Zinssystems hatte und daraus ebenso geniale Ideen zu seiner Überwindung
entwickelt hat. In einem bloßen
Zinsverbot sah er - in einer weitgehend verweltlichten und von der Jagd
nach individuellem Vorteil geprägten Welt - allerdings kein geeignetes
Mittel. Denn es würde Menschen, die über ihren Konsum hinaus von ihrem
Einkommen noch Geld übrig haben, nicht mehr veranlassen, ihr Geld
anzulegen und damit anderen in Form von Krediten für gewisse Zeit verfügbar
zu machen. Ohne Zins hätten sie keinen Anreiz dazu, und sie würden das
Geld stattdessen lieber horten und für Spekulationszwecke zurückhalten
(was Keynes später „Vorliebe für Liquidität“ oder „Liquiditätspräferenz“
nannte). Wenn aber nun Teile des bei der Produktion entstandenen
Volkseinkommens zurückgehalten und damit dem gesamtwirtschaftlichen
Produktions-Einkommens-Kreislauf entzogen werden, fehlt es insoweit an
gesamtwirtschaftlicher Nachrage, um das produzierte und angebotene
Sozialprodukt in voller Höhe und zu den geplanten Preisen abzusetzen.
Mit anderen Worten: Es käme zu Absatzkrisen, Firmenzusammenbrüchen,
Arbeitslosigkeit und einer entsprechenden Kettenreaktion in Richtung
sich verschärfender Wirtschaftskrise. Wenn also
allein moralisch oder religiös begründete Appelle an die Eigentümer
überschüssigen Geldes nicht ausreichen, um sie zum zinslosen Anlegen
von Geld zu veranlassen, dann müßte das sonst gehortete Geld auf
andere Weise in Umlauf gehalten oder gebracht werden: durch eine
Umlaufsicherungsgebühr auf gehortetes Geld. Je länger und je mehr das
Geld dem Produktions-Einkommens-Kreislauf entzogen wird, um
so höher sollte die Gebühr ausfallen (ähnlich wie mittlerweile
die Parkgebühr für Autos in den Innenstädten). Und um der sonst
drohenden Gebühr auszuweichen, würde das Geld verstärkt zum
Kapitalmarkt fließen - und den Zins aufgrund des wachsenden
Geldangebots nach den Gesetzen des Marktes immer mehr absinken lassen. Das
Freigeldexperiment von Wörgl Diese Idee
eines nicht destruktiven, also eines „konstruktiven Umlaufantriebs des
Geldes“, ist nicht nur reine Theorie geblieben, sondern wurde bereits
mehrmals ansatzweise in der Praxis erprobt - mit erstaunlichen Erfolgen.
Ein Beispiel ist das sogenannte „Freigeld-Experiment“ in der österreichischen
Kleinstadt Wörgl 1932. (Der Ausdruck
„Freigeld“ meint ein Geld, das weitgehend vom Zins befreit ist.) In
einer Zeit von Massenarbeitslosigkeit und wachsendem sozialen Elend während
der damaligen Weltwirtschaftskrise wurde ein alternatives Geldsystem -
ausgestattet mit einem Geldumlaufantrieb - eingeführt, und im Gefolge
davon blühte die lokale Wirtschaft auf, während sich die Bedingungen
in der übrigen Wirtschaft immer mehr verschlimmerten. Man sprach sogar
vom „Wunder von Wörgl“, das seinerzeit
internationale Beachtung fand, aber es war kein Wunder im spirituellen
oder religiösen Sinn, sondern lag ganz weltlich auf der Linie dessen,
was Gesell mit seiner Geld- und Zinstheorie beschrieben hatte. (Das
Freigeldexperiment in Wörgl wurde übrigens
nach einem Jahr durch Intervention der österreichischen Nationalbank,
die sich auf ihr Geldmonopol berief, gerichtlich verboten!) Zinsfreie
Geld- und Tauschsysteme für die Dritte Welt Es wäre übrigens
höchst interessant und wichtig zu prüfen, ob sich ähnliche
alternative Geldsysteme nicht auch in der Gegenwart und Zukunft -
insbesondere in von Wirtschaftskrisen geschüttelten Regionen oder Ländern,
vielleicht auch in Ländern der Dritten Welt - realisieren lassen. Die Rückbesinnung
auf die theoretischen Grundlagen und praktischen Erfahrungen mit
alternativen Geld- und Tauschsystemen[13]
befindet sich noch ziemlich in den Anfängen und hat bei uns noch keine
weite Verbreitung gefunden. Doch in den letzten Jahren - wohl vor dem
Hintergrund des Zusammenbruchs der sozialistischen Systeme und der immer
offensichtlicher werdenden Krisentendenzen des Kapitalismus - nimmt die
Suche nach einem „Dritten Weg“[14]
doch deutlich zu. Es ist zu hoffen, daß diese Bewegung mehr und mehr
Teile der Gesellschaft erreicht. Auch auf die Kirchen kommt im
Zusammenhang dieser Thematik eine wichtige Aufgabe zu: Unter Rückbesinnung
auf ihre frühere Kritik am Zinssystem könnte sie neuere Konzepte
aufgreifen und Bewegungen unterstützen, die auf eine Überwindung des
Zinssystems gerichtet sind, und alternative Geld- und Tauschsysteme fördern
- bei uns und in der Dritten Welt. Schuldenerlaß
und Notwendigkeit struktureller Veränderungen Die Forderungen
nach einem Schuldenerlaß für die Länder der Dritten Welt und die
Initiativen für ein „Erlaßjahr 2000“
sind wichtig und unterstützenswert. Aber solange an den strukturellen
Bedingungen, die der Schuldenkrise der Dritten Welt ursächlich oder
verstärkend zugrunde liegen, nichts Wesentliches geändert wird, wird
ein Schuldenerlaß nur vorübergehende Linderung bringen. Die Krankheit
selber würde dadurch nicht geheilt, sondern würde nach einiger Zeit
wieder ähnliche Symptome hervortreiben. Wenn der Zins tatsächlich der
„Krebs des sozialen Organismus“ ist, dann reicht es nicht aus, den
bedrohlich angewachsenen Tumor von Schulden und Geldvermögen
herauszuschneiden. Die wirkliche Heilung - und erst recht die Vorbeugung
für die Zukunft - muß tiefer ansetzen. Die teuflische Dynamik des
Zinssystems selbst gilt es zu überwinden. Darüber hinaus scheinen mir - um es nur ganz kurz anzudeuten - zwei weitere Richtungsänderungen zur langfristigen Lösung der Schuldenkrise der Dritten Welt erforderlich:
Im Rahmen
regionaler und lokaler Märkte hätten auch alternative Geld- und
Tauschsysteme eine größere Chance der Realisierung und könnten mit
dazu beitragen, den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen und die
teuflische Dynamik des Zinses zu überwinden. Ein Schuldenerlaß im „Erlaßjahr
2000“ könnte vorübergehend den Druck des Schuldenberges lindern und
Raum schaffen für grundlegende Umorientierungen. Aber dieser Raum müßte
auch genutzt werden, und dafür bedarf es zukunftsweisender Konzepte,
die aus einer mit Gewalt verschütteten und verdrängten Vergangenheit
viel lernen können. [1] Überarbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrags zur Podiumsdiskussion auf dem Ökumene-Tag des Ökumenischen Rats Berlin-Brandenburg zum Thema „Erlaßjahr 2000“ in der St. Marien-Kirche in Berlin-Mitte am 3. Sept. 1998 [2] Roland Geitmann: Bibel, Kirchen und Zinsverbot, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, Heft 80, 1989, Gauke-Verlag Lütjenburg [3] a.a.O. [4] a.a.O. [5] Gunnar Heinsohn / Otto Steiger: Eigentum, Zins und Geld - Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft, Rowohlt-Verlag, Reinbek 1966 [6] Bernd Senf: Der Nebel um das Geld - Zinsproblematik, Währungssysteme, Wirtschaftskrisen GAUKE - 6. überarbeitete Auflage Okt. 2001 - ISBN: 3879984352 [7] Margrit Kennedy: Geld ohne Zinsen und Inflation, Wilhelm-Goldmann-Verlag, München 1993 [8] Helmut Creutz: Das Geldsyndrom - Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft, Ullstein-Taschenbuch, Frankfurt am Main/Berlin 1995 [9] Das Hauptwerk von Silvio Gesell ist sein Buch „Die natürliche Wirtschaftsordnung“ von 1916, Gesammelte Werke, Band 11, Gauke-Verlag, Lütjenburg 1991. Seine Gesammelten Werke, herausgegeben von Werner Onken, umfassen 18 Bände. [10] Diese Beispiel habe ich dem Buch von Margrit Kennedy „Geld ohne Zinsen und Inflation“, a.a.O., S. 22, entnommen. [11] Siehe hierzu das Kapitel „Der Zins und die Schuldenkrise der Dritten Welt“, entnommen aus: Bernd Senf: Der Nebel um das Geld, a.a.O., S. 109 -117 [12] Siehe hierzu Helmut Creutz: Das Geldsyndrom, a.a.O., S. 253 [13] Siehe hierzu Werner Onken: Modellversuche mit sozialpflichtigem Boden und Geld, Gauke-Verlag, Lütjenburg 1997 [14] „DER DRITTE WEG“ ist auch der Titel einer Zeitschrift, die sich auf das Werk von Silvio Gesell und die Freiwirtschaftslehre bezieht und den Bezug zu gegenwärtigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Problemen herstellt. Sie enthält auch eine Fülle von Hinweisen auf weiterführende Literatur. Bezugsadresse: Rappenbergstr. 64, D-91757 Treuchtlingen [15] Siehe hierzu Maria Mies: „Moral Economy“ und Subsistenzperspektive im Norden und Süden, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, Heft 118, Gauke-Verlag Lütjenburg, September 1998 [16]
„Eine solche Gesellschaft/Wirtschaft wird auf den Prinzipien der Regionalisierung/Lokalisierung
und Dezentralisierung beruhen und nicht mehr auf dem
globalen Handel. Nur in einer regionalen Ökonomie können Menschen
Verantwortung für und Kontrolle über die gemeinsschaftlichen
Ressourcen, die Natur, die Arbeitsbedingungen, die Nahrung haben ...
Die Produzenten werden produzieren, was die Menschen der Region
brauchen - und nicht für einen anonymen Weltmarkt.“ (Maria Mies,
a.a.O., S. 24) Vertiefende Literatur zu diesem Thema Bernd Senf: Der Nebel um das Geld
- Zinsproblematik, Währungssysteme, Wirtschaftskrisen |
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Version: 22.05.08 15:24:54