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B e r n d    S e n f
Schuldenerlaß
und Überwindung des Zinssystems[1]

Siehe zur Problematik des Zinssystem auch die Seiten:  
Die Lösung der Blockierung ist die Lösung
  
Zinssystem und Staatsbankrott
Der Nebel um das Geld: Die Problematik des Zinssystems

Beitrag zum Ökumenetag Berlin-Brandenburg im September 1998

Zunächst einmal möchte ich mich herzlich bedanken für die Einladung und für die Gelegenheit, aus diesem Anlaß und in diesem Rahmen zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Die Schuld an der Verschuldung

Wenn es um Schuldenerlaß gegenüber den Ländern der Dritten Welt geht, stellt sich für mich auch die Frage, wer oder was denn eigentlich die Schuld hat an der Verschuldung. Sind es wirklich in erster Linie oder gar ausschließlich die Schuldnerländer selbst, oder sind es nicht - mindestens auch - wir, die entwickelten Industrieländer, der Norden, der eine wesentliche Schuld trägt an dem wachsenden Elend großer Teile der Dritten Welt? Und der sich zu allererst einmal zu dieser Schuld bekennen und sich dafür vor aller Welt entschuldigen müßte, bevor es an die Lösung der Entschädigungsfrage geht? Stattdessen sprechen wir von der Verschuldung - und damit ja auch von der Schuld - der Dritten Welt und darüber, daß diesen Ländern im „Erlaßjahr 2000“ die Schulden ganz oder teilweise erlassen werden sollen.  

Die wichtigen Diskussionen und Aktivitäten verschiedener Gruppen zum „Erlaßjahr 2000“ - auch innerhalb der Kirchen - sollten auch Anlaß sein, sich unseren Anteil der Schuld am Elend der Dritten Welt bewußt zu machen. Ich selbst sehe die Schuld des Nordens an der Verschuldung des Südens vor allem auf drei Ebenen begründet:  

  • der offenen Gewalt des Kolonialismus

  • der strukturellen Gewalt des kapitalistischen Weltmarkts

  • der strukturellen Gewalt des Zinssystems

Der Zins und seine Problematik - ein altes Thema der Kirchen

Ich möchte im folgenden vor allem auf den Anteil des Zinssystems eingehen, dessen grundsätzliche Problematik in diesem Zusammenhang nur selten erwähnt wird. Eine Ausnahme davon bildet das hervorragende Referat von Herrn Dr. Goldstein, das wir gerade gehört haben und dem ich mich in vielen Punkten inhaltlich voll anschließen kann, insbesondere was seine Ausführungen über den Zusammenhang von Zinssystem und Schuldenkrise der Dritten Welt anlangt. Tatsächlich ist es ja so, daß die Diskussion um die Problematik des Zinsnehmens im Christentum (und übrigens auch im Islam und im Judentum) eine lange Tradition hat. Herr Dr. Goldstein hat in diesem Zusammenhang einige sehr markante Zitate angeführt, denen sich noch etliche hinzufügen ließen. 

Zur Vertiefung dieser Thematik möchte ich auf einen Beitrag von Prof. Roland Geitmann, dem Vorsitzenden des Vereins „Christen für eine gerechte Wirtschaftsordnung“ (CGW) hinweisen mit dem Titel: „Bibel, Kirchen und Zinsverbot“[2]. Darin wird unter anderem aufgezeigt, in welchem historischen Zusammenhang die Forderungen nach einem Zinsverbot innerhalb der christlichen Kirchen mehr und mehr abgeschwächt wurden, in den Hintergrund traten und schließlich gar nicht mehr erwähnt wurden; mit anderen Worten: wie die schon einmal erkannte Problematik des Zinses von den christlichen Kirchen mit der zunehmenden Entfaltung des Kapitalismus mehr und mehr verdrängt wurde - von der evangelischen Kirche übrigens schon wesentlich früher als von der katholischen:  

„Im 16. Jahrhundert wurde um die Zinsfrage außerordentlich heftig  gerungen. Um 1600 schließlich wurde auf evangelischer Seite Luthers prinzipelle Absage an das Zinsnehmen unauffällig korrigiert und der entstehenden Geldwirtschaft Rechnung getragen. Die zunehmende Verquickung von Staat und Wirtschaft, das evangelische Staatskirchentum und die staatlichen Bindungen der theologischen Fakultäten haben das Thema Zins so nachhaltig in der Versenkung verschwinden lassen, daß viele protestantische Pfarrer heute außer dem mißverstandenen Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Matthäus 25, 27) hierzu keinerlei Assoziationen mehr haben und im Zins insbesondere kein theologisches Problem mehr sehen. - Demgegenüber muß man der katholischen Kirche bescheinigen, daß sie viel länger und nachhaltiger um die Zinsfrage rang.“[3] ... „Die ersatzlose Streichung des Zinskanons im neuen Kirchengesetzbuch von 1983 markiert das Ende des katholischen Zinsverbots.“[4]

Erst in den letzten Jahren kommt es in den christlichen Kirchen vereinzelt zu einer Rückbesinnung auf die diesbezüglichen eigenen Traditionen, und die Problematik des Zinssystems wird dabei nicht nur rückblickend, sondern auch bezogen auf Probleme der Gegenwart diskutiert, unter anderem in Verbindung mit der Schuldenkrise der Dritten Welt und der Forderung nach einem „Erlaßjahr 2000“. Ich freue mich besonders, mit Herrn Dr. Goldstein einen der engagierten Vertreter dieser Sichtweise heute und hier persönlich kennenlernen zu dürfen.  

Die Verdrängung der Zinsproblematik durch die Wirtschaftswissenschaften

Ich selbst komme ja nun aus dem Bereich der Wissenschaft, speziell der Wirtschaftswissenschaft, fühle mich allerdings nicht als deren Vertreter, sondern - was das Thema „Zins“ anlangt - als einer ihrer scharfen Kritiker. Die verschiedenen Hauptströmungen der Wirtschaftswissenschaften haben es nämlich mit scheinbar wissenschaftlichen Methoden geschafft, bei allen Unterschieden und Gegensätzen ihrer Lehrmeinungen dem Zinssystem ihren gemeinsamen „wissenschaftlichen Segen“ zu erteilen und es zu legitimieren, oder jedenfalls nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Das gilt nicht nur für den klassischen ökonomischen Liberalismus von Adam Smith, sondern auch und noch viel mehr für die heute wieder herrschende Lehre der Neoklassik oder des Neoliberalismus, aber in abgeschwächter Form auch für den Keynesianismus - und sogar für Marx (der zwar das Privateigentum an Produktionsmitteln, nicht aber das Zinssystem bekämpft hat). Und es gilt auch für eine neue Theorie von Heinsohn und Steiger[5], die zwar alle anderen Richtungen fundamental kritisieren (weil sie den Zins in seiner historischen Entstehung und in seiner untrennbaren Verknüpfung mit dem Eigentum nicht verstanden hätten), die aber dem Zins (und dem zugrunde liegenden Eigentum) ebenfalls ihren Segen erteilen.

Alle haben sie im Hinblick auf den Zins den gleichen blinden Fleck: Sie sehen nicht - oder wollen nicht sehen - die destruktive Dynamik, die der Zins auf Dauer unvermeidlich entfaltet, und sie  sehen nicht die Krisentendenzen, die er hervortreibt - und zwar je länger, um so heftiger: die Krise der Wirtschaft, der Umwelt, der Gesellschaft, des Staates und der Dritten Welt (symbolisch angedeutet im Titelbild meines Buches „Der Nebel um das Geld[6]). Die Krisen sind zwar nicht mehr zu leugnen, aber der wesentliche Zusammenhang zum Zins bleibt verdrängt.

Mein Zugang zum Thema „Zins“

Bezeichnenderweise bin ich selbst auf die Zinsproblematik nicht im Rahmen meines Ökonomiestudiums und meines drei Jahrzehnte währenden wirtschaftswissenschaftlichen Lehr- und Forschungszusammenhangs gekommen, sondern wurde erst vor einigen Jahren von Nicht-Fachökonomen dazu angeregt, mich näher damit zu beschäftigen - allen voran durch Margrit Kennedy (und ihr Buch „Geld ohne Zinsen und Inflation“[7]) sowie durch Helmut Creutz (und sein Buch „Das Geldsyndrom“[8]). Auf ihre Frage, ob ich mich denn schon einmal näher mit dem Werk von Silvio Gesell[9]  und seiner grundlegenden Zinskritik beschäftigt hätte, mußte ich passen. Aber die Anregungen, die ich später (im Rahmen einer einwöchigen Zukunftswerkstatt zum Thema „Geld und Zins“) in Steyerberg durch beide bekommen habe, waren für mich Ansporn, das Versäumte im Rahmen eines Forschungssemesters nachzuholen. Und ich muß rückblickend sagen, daß ich dabei unglaublich fündig geworden bin und enorm viel dazu gelernt habe. Das Thema „Zins“ ließ mich seither nicht mehr los, nachdem ich glaubte erkannt zu haben, welch teuflische Dynamik im Zinssystem angelegt ist. Ich spreche mittlerweile vom „Zins als Krebs des sozialen Organismus“ oder vom „Zinssatz als sozialem Sprengsatz“. Das klingt sehr drastisch, aber es ist nicht übertrieben. Warum, will ich hier mindestens kurz andeuten. (Ausführlicher werden diese Zusammenhänge in meinem Buch „Der Nebel um das Geld“ entwickelt.)

Zins und monetärer Teufelskreis

Wir haben uns alle daran gewöhnt, daß Geld scheinbar von selbst wächst und wächst und wächst, wenn man es zinstragend anlegt - insbesondere dann, wenn die Zinserträge immer wieder auf die schon vorhandene Geldanlage drauf gepackt und ihrerseits mit verzinst werden. Dann ergibt sich das, was man „Zinseszins“ nennt und was zu einem exponentiellen Wachstum, das heißt zu einem beschleunigten Anwachsen des Geldvermögens führt. Jeder kennt die entsprechenden Kurven oder Grafiken, die einem von Banken und Versicherungen vorgelegt werden, wenn es um Geldanlagen geht. Aber kaum jemand macht sich Gedanken darüber, was diesem Wachstum überhaupt zugrunde liegt und wohin denn diese Entwicklung auf Dauer treibt.  

Was auf der einen Seite zu Zinserträgen führt, muß ja auf der anderen Seite irgendwo an Zinslasten aufgebracht und erwirtschaftet werden. Wachsende Geldvermögen finden immer ihr Spiegelbild in wachsender Verschuldung, und mit jeder Verzinsung wachsen die Geldvermögen weiter an und drängen zu entsprechend neuen Geldanlagen - und also auch zu wachsender Verschuldung an anderer Stelle. Daraus ergibt sich das, was Helmut Creutz den „monetären Teufelskreis“ nennt (treffender wäre der Ausdruck „Teufelsspirale“): ein immer schnelleres wechselseitiges Sich-Hochschaukeln von Geldvermögen und Verschuldung. Gesamtwirtschaftlich betrachtet können die sich daraus ergebenden wachsenden Zinslasten bzw. Zinserträge nur aufgebracht werden, wenn das Sozialprodukt entsprechend mit wächst. Anders ausgedrückt: Der Zins setzt die Wirtschaft unter einen permanenten Wachstumszwang.

Der Josephs-Pfennig 

Viele sehen deshalb im Zins einen wesentlichen Motor des Wirtschaftswachstums und werten dies als positiv. Eine einfache Rechnung sollte sie indes stutzig machen, jedenfalls was die langfristigen Konsequenzen der Dynamik des Zinseszinses angeht. Die Rede ist vom sogenannten „Josephs-Pfennig“, von der Frage nämlich, auf welchen Betrag denn ein Pfennig angewachsen wäre, wenn ihn Joseph zu Christi Geburt festverzinslich zu 5% angelegt hätte (vorausgesetzt, der Pfennig hätte damals schon als Geld existiert, und es hätte weder Inflation noch Währungsreformen noch irgendeine Besteuerung des heranwachsenden Geldvermögens oder der Zinserträge gegeben). Mit Hilfe der Zinseszins-Formel läßt sich diese Rechnung auf jedem Taschenrechner durchführen, und jedesmal, wenn Student(inn)en in meinen Kursen das zum erstenmal tun, trauen sie ihren Augen oder ihrem Rechner nicht oder meinen, daß sie wohl selbst einen Fehler gemacht haben müssen, so unermeßlich groß ist die Zahl an Pfennigen, die dabei herauskommt.  

Um sich diese Zahl besser vorstellen zu können, kann man sie zum Beispiel umrechnen in Goldkugeln (auf der Grundlage des jeweils geltenden Goldpreises). Ich habe mir das Ergebnis dieser Rechnung bezogen auf einen Stichtag 1990 gemerkt:

  • aus 1 Pfennig zu Christi Geburt wären bei 5% Zinseszins bis zum Jahr 1990 umgerechnet

  • 134 Milliarden Goldkugeln vom Gewicht der Erde (!) geworden.[10]

Eine unglaubliche, unvorstellbare Zahl, wo doch die ganze Erde nur zu einem geringen Bruchteil aus Goldvorkommen besteht. Aber die Rechnung stimmt! Und inzwischen wäre die Zahl noch viel größer, weil sich der Betrag von Tag zu Tag mit ungeheurer Beschleunigung vermehrt. Ich habe es aufgegeben, die Rechnung täglich auf den neuesten Stand zu bringen - und ich habe es ehrlich gesagt auch vorher nicht getan. Allein diese eine Rechnung hat mich zutiefst erschrocken. Sie müßte allen Kindern in der Schule - und auch allen Erwachsenen - vorgelegt werden und Anlaß sein, über die Dynamik des Zinseszinses und ihre Konsequenzen zu diskutieren.

Die langfristige Destruktivität des Zinssystems

Was lehrt uns dieses einfache Rechenbeispiel? Daß das Zinssystem auf Dauer unmöglich störungsfrei funktionieren kann. Es muß von Zeit zu Zeit in unregelmäßigen Abständen immer wieder zu Währungsschnitten, zu einem Herausschneiden und Entwerten von Geldvermögen und Schulden kommen - in welcher Form auch immer: durch Schuldenerlaß, Inflation, Währungsreform, Revolution oder Krieg. (In Deutschland hatten wir in diesem Jahrhundert zwei solcher Währungsschnitte: 1923 und 1948 - nach jeweils verheerenden ökonomischen und sozialen Katastrophen.) Damit es anschließend auf der Grundlage geschrumpfter oder vernichteter Schulden und Geldvermögen wieder von vorne losgeht - bis zum nächsten Knall.

In einer Welt begrenzter Ressourcen und Absatzmärkte kann das Wachstum des Sozialprodukts auf Dauer unmöglich mit dem Tempo mithalten, das der Zins ihm abfordert. Es muß früher oder später - im Laufe einiger Jahrzehnte - zu einem sich verschärfenden Konflikt zwischen exponentiell anwachsenden Zinslasten und nicht entsprechend mit wachsendem Sozialprodukt kommen, mit der Konsequenz, daß der Zins einen immer größeren Teil des Kuchens Sozialprodukt auffrißt. Dem sozialen Organismus einer Wirtschaft werden auf diese Weise immer mehr Lebensgrundlagen entzogen. Und der wachsende Tumor der Zinslasten drückt unvermeidlich immer mehr auf einzelne Teile des Organismus und stört oder zerstört sie in ihrer Funktion - bis schließlich der Organismus als Ganzes in Destruktion verfällt. Wie wirkt sich nun dieser wachsende Druck auf einzelne Teile des Gesamtsystems aus: auf Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft, Staat und Dritte Welt?  

Der Zins als Verursacher oder Verstärker von Krisen  

Die Unternehmen einer Wirtschaft geraten bei nicht mehr hinreichend wachsenden Erlösen in die Schuldenklemme und geraten unter immer stärkeren Druck, ihre Kosten zu senken, allen voran die Lohnkosten und die für Umweltschutz - mit der Folge wachsender Arbeitslosigkeit und wachsender Umweltbelastung. Während sich die einen noch durch Vergrößerung der Unternehmen (zum Beispiel durch Fusionen) retten, werden die anderen auf der abwärts laufenden Rolltreppe der Konkurrenz um so schneller in den Abgrund des Konkurses gestürzt. Überschuldete private Haushalte gleiten in wachsendem Maße ins soziale Elend ab.  

Der verschuldete Staat kann sich noch eine ganze Weile länger über Wasser halten, durch wachsende Neuverschuldung, um damit die alten Schulden zu bedienen, und zur Not durch zusätzliche Geldschöpfung, die in die Inflation treibt. Aber irgendwann wird entweder die Währung zusammenbrechen, oder es wird vorher die Notbremse drastischer Sparmaßnahmen gezogen, die in der Regel vor allem die sozial Schwächeren trifft und so die sozialen Spannungen, die schon durch die Arbeitslosigkeit gestiegen sind, noch zusätzlich erhöht.  

Vom Zinssystem profitieren nur die Reichen  

Die sozialen Spannung werden noch durch einen weiteren Aspekt des Zinssystems verschärft, nämlich durch eine von ihm bewirkte Umverteilung von unten nach oben - sowohl innerhalb der einzelnen Ländern wie auch global zwischen Süden und Norden. Ich will hier nur kurz auf die erste Art der Umverteilung innerhalb eines Landes eingehen, die wesentlich zur „Krise der Gesellschaft“ im Sinne wachsender Ungleichverteilung  und Polarisierung beiträgt. (Die Umverteilung von Süden nach Norden wird im Anhang ausführlicher behandelt.[11])  

Um es als These vorweg zu nehmen: Das Zinssystem pumpt täglich und stündlich auf unsichtbare und den meisten Menschen unbewußte Weise Geld von ungefähr 85% der Einkommensbezieher hoch zu den 15% der Reichen und Superreichen. Es bildet einen wesentlichen Hintergrund dafür, daß die Reichen immer reicher und die Armen (mindestens relativ, wenn nicht gar absolut) immer ärmer werden, das heißt dafür, daß sich die Gesellschaft immer mehr polarisiert. Wie geschieht das innerhalb der entwickelten Industrieländer?  

Die zinsbedingte Umverteilung von unten nach oben zeigt sich bei Gegenüberstellung von Zinserträgen und Zinslasten, bezogen auf unterschiedliche Einkommensschichten. Zinslasten tragen dabei nicht nur diejenigen, die sich verschuldet haben und dafür sichtbare Zinsen zahlen müssen, sondern auf unsichtbare Weise auch alle Konsumenten. Denn in jedem Preis für Konsumgüter steckt  ein bestimmter Anteil an Zinskosten, die die Unternehmen für das aufgenommene Fremdkapital (und sogar für das eingesetzte Eigenkapital) berechnen. Offizielle Statistiken darüber gibt es bezeichnenderweise nicht, aber wohl begründete Schätzungen von Helmut Creutz kommen zu dem Ergebnis, daß die unsichtbaren Zinslasten durchschnittlich 1/3 der Konsumgüterpreise ausmachen. Mit jedem Kauf im Supermarkt oder sonstwo zahlen wir also - ohne daß sich die meisten dessen bewußt sind - im Durchschnitt 1/3 unsichtbare Zinsen.  

Während sich also die kleinen und mittleren oder auch noch die größeren Sparer über ihre jährlichen Zinserträge in der einen Tasche freuen, merken sie gar nicht, daß ihnen ein oftmals viel größerer Betrag an unsichtbaren Zinslasten aus der anderen Tasche herausgezogen wird - und sie unter dem Strich zu den 85% der Verlierer des Zinssystems gehören. Nur bei wenigen sind die Geldvermögen und die daraus fließenden Zinserträge so groß, daß sie die sichtbaren und unsichtbaren Zinslasten mehr oder weniger übersteigen, und dies zum Teil in Ausmaßen, die jensneits des  normale Vorstellungsvermögens liegen. (Eine Erbin des Quandt-Konzerns zum Beispiel bezog schon vor Jahren täglich 650 000 DM an Zinserträgen![12] Und sie ist bei weitem nicht der reichste Mensch in Deutschland, geschweige denn in der Welt.)  

Die wachsenden Zinsen drücken immer mehr  

Wenn nun aber der Kuchen des Sozialprodukts auf Dauer nicht in gleichem Maße wächst wie die Zinslasten bzw. Zinserträge, dann ist klar, daß die 15% der Zinsgewinner mit ihren exponentiell wachsenden Zinserträgen sich ein prozentual immer größeres Stück aus dem Kuchen herausschneiden, noch ehe dieser auf dem Tisch der Gesellschaft zur Verteilung serviert wird. Was also für den großen Rest von 85% der Einkommensbezieher zur  Verteilung übrig bleibt, wird immer weniger, und (scheinbar) alle müssen sparen, zurückstecken, den Gürtel enger schnallen und sich mehr anstrengen - selbst bei immer noch wachsendem Sozialprodukt; ein scheinbares Paradox, das wir seit einigen Jahren auch in Deutschland erleben. Der Gestaltungsspielraum von Politik wird dadurch - auf eine für die Demokratie bedenkliche und bedrohliche Weise - immer weiter eingeschränkt.  

Und die Schuldenkrise der Dritten Welt? Sie ist sicherlich nicht nur durch den Zins verursacht, sondern hat ganz wesentlich historische Wurzeln im Kolonialismus und hängt - neben internen Faktoren - zusammen mit der Struktur des kapitalistischen Weltmarkt und der dadurch bedingten jahrzenhntelangen Verschlechterung der Austauschverhältnisse („terms of trade“). Aber das Zinssystem hat die dadurch verursachten Probleme der Dritten Welt noch gewaltig verschärft.  

Für all die hier nur kurz angedeuteten Krisentendenzen brauchte es gar keine zusätzlichen Ursachen.  Allein das Zinssystem und seine Dynamik reichen aus, um diese Krisen hervorzutreiben und zu verschärfen. Das ist jedenfalls die These der Zinskritiker, die sich wesentlich auf die von Silvio Gesell gelegten Grundlagen beziehen und diese weiterentwickelt haben. Ungeachtet dessen sprechen die Vertreter der herrschenden Wirtschaftslehre vom Zins als einem wesentlichen Regulator für die „optimale Allokation der Ressourcen“...  

Silvio Gesells „Freiwirtschaftslehre“: Die Befreiung der Gesellschaft vom Zins  

Silvio Gesell, dessen Namen Herr Dr. Goldstein in seinem Diskussionsbeitrag ja auch schon würdigend  erwähnt hat, war selbst kein Fachökonom, und er bzw. seine Lehren blieben auch aus den akademischen Wirtschaftswissenschaft durch ein ganzes Jahrhundert hindurch ausgegrenzt. Das spricht aber nicht gegen ihn und die von ihm begründete „Freiwirtschaftslehre“, sondern gegen die Wirtschaftswissenschaft. Ich selbst habe es mir dennoch nicht nehmen lassen, mich mit seinem Werk auseinanderzusetzen, und bin zu der Einschätzung gekommen, daß Gesell schon zu Beginn des Jahrhunderts geradezu geniale Einsichten in die Problematik des Zinssystems hatte und daraus ebenso geniale Ideen zu seiner Überwindung entwickelt hat.  

In einem bloßen Zinsverbot sah er - in einer weitgehend verweltlichten und von der Jagd nach individuellem Vorteil geprägten Welt - allerdings kein geeignetes Mittel. Denn es würde Menschen, die über ihren Konsum hinaus von ihrem Einkommen noch Geld übrig haben, nicht mehr veranlassen, ihr Geld anzulegen und damit anderen in Form von Krediten für gewisse Zeit verfügbar zu machen. Ohne Zins hätten sie keinen Anreiz dazu, und sie würden das Geld stattdessen lieber horten und für Spekulationszwecke zurückhalten (was Keynes später „Vorliebe für Liquidität“ oder „Liquiditätspräferenz“ nannte). Wenn aber nun Teile des bei der Produktion entstandenen Volkseinkommens zurückgehalten und damit dem gesamtwirtschaftlichen Produktions-Einkommens-Kreislauf entzogen werden, fehlt es insoweit an gesamtwirtschaftlicher Nachrage, um das produzierte und angebotene Sozialprodukt in voller Höhe und zu den geplanten Preisen abzusetzen. Mit anderen Worten: Es käme zu Absatzkrisen, Firmenzusammenbrüchen, Arbeitslosigkeit und einer entsprechenden Kettenreaktion in Richtung sich verschärfender Wirtschaftskrise.  

Wenn also allein moralisch oder religiös begründete Appelle an die Eigentümer überschüssigen Geldes nicht ausreichen, um sie zum zinslosen Anlegen von Geld zu veranlassen, dann müßte das sonst gehortete Geld auf andere Weise in Umlauf gehalten oder gebracht werden: durch eine Umlaufsicherungsgebühr auf gehortetes Geld. Je länger und je mehr das Geld dem Produktions-Einkommens-Kreislauf entzogen wird, um so höher sollte die Gebühr ausfallen (ähnlich wie mittlerweile die Parkgebühr für Autos in den Innenstädten). Und um der sonst drohenden Gebühr auszuweichen, würde das Geld verstärkt zum Kapitalmarkt fließen - und den Zins aufgrund des wachsenden Geldangebots nach den Gesetzen des Marktes immer mehr absinken lassen.  

Das Freigeldexperiment von Wörgl  

Diese Idee eines nicht destruktiven, also eines „konstruktiven Umlaufantriebs des Geldes“, ist nicht nur reine Theorie geblieben, sondern wurde bereits mehrmals ansatzweise in der Praxis erprobt - mit erstaunlichen Erfolgen. Ein Beispiel ist das sogenannte „Freigeld-Experiment“ in der österreichischen Kleinstadt Wörgl 1932. (Der Ausdruck „Freigeld“ meint ein Geld, das weitgehend vom Zins befreit ist.) In einer Zeit von Massenarbeitslosigkeit und wachsendem sozialen Elend während der damaligen Weltwirtschaftskrise wurde ein alternatives Geldsystem - ausgestattet mit einem Geldumlaufantrieb - eingeführt, und im Gefolge davon blühte die lokale Wirtschaft auf, während sich die Bedingungen in der übrigen Wirtschaft immer mehr verschlimmerten. Man sprach sogar vom „Wunder von Wörgl“, das seinerzeit internationale Beachtung fand, aber es war kein Wunder im spirituellen oder religiösen Sinn, sondern lag ganz weltlich auf der Linie dessen, was Gesell mit seiner Geld- und Zinstheorie beschrieben hatte. (Das Freigeldexperiment in Wörgl wurde übrigens nach einem Jahr durch Intervention der österreichischen Nationalbank, die sich auf ihr Geldmonopol berief, gerichtlich verboten!)  

Zinsfreie Geld- und Tauschsysteme für die Dritte Welt  

Es wäre übrigens höchst interessant und wichtig zu prüfen, ob sich ähnliche alternative Geldsysteme nicht auch in der Gegenwart und Zukunft - insbesondere in von Wirtschaftskrisen geschüttelten Regionen oder Ländern, vielleicht auch in Ländern der Dritten Welt - realisieren lassen. Die Rückbesinnung auf die theoretischen Grundlagen und praktischen Erfahrungen mit alternativen Geld- und Tauschsystemen[13] befindet sich noch ziemlich in den Anfängen und hat bei uns noch keine weite Verbreitung gefunden. Doch in den letzten Jahren - wohl vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der sozialistischen Systeme und der immer offensichtlicher werdenden Krisentendenzen des Kapitalismus - nimmt die Suche nach einem „Dritten Weg“[14] doch deutlich zu. Es ist zu hoffen, daß diese Bewegung mehr und mehr Teile der Gesellschaft erreicht. Auch auf die Kirchen kommt im Zusammenhang dieser Thematik eine wichtige Aufgabe zu: Unter Rückbesinnung auf ihre frühere Kritik am Zinssystem könnte sie neuere Konzepte aufgreifen und Bewegungen unterstützen, die auf eine Überwindung des Zinssystems gerichtet sind, und alternative Geld- und Tauschsysteme fördern - bei uns und in der Dritten Welt.  

Schuldenerlaß und Notwendigkeit struktureller Veränderungen  

Die Forderungen nach einem Schuldenerlaß für die Länder der Dritten Welt und die Initiativen für ein „Erlaßjahr 2000“ sind wichtig und unterstützenswert. Aber solange an den strukturellen Bedingungen, die der Schuldenkrise der Dritten Welt ursächlich oder verstärkend zugrunde liegen, nichts Wesentliches geändert wird, wird ein Schuldenerlaß nur vorübergehende Linderung bringen. Die Krankheit selber würde dadurch nicht geheilt, sondern würde nach einiger Zeit wieder ähnliche Symptome hervortreiben. Wenn der Zins tatsächlich der „Krebs des sozialen Organismus“ ist, dann reicht es nicht aus, den bedrohlich angewachsenen Tumor von Schulden und Geldvermögen herauszuschneiden. Die wirkliche Heilung - und erst recht die Vorbeugung für die Zukunft - muß tiefer ansetzen. Die teuflische Dynamik des Zinssystems selbst gilt es zu überwinden.  

Darüber hinaus scheinen mir - um es nur ganz kurz anzudeuten - zwei weitere Richtungsänderungen zur langfristigen Lösung der Schuldenkrise der Dritten Welt erforderlich:

  • eine stärkere Rückbesinnung auf die traditionellen Produktions- und Lebensweisen der gemeinschaftlichen Subsistenzwirtschaft[15] und auf die eigenen kulturellen Wurzeln, und

  • eine Reduzierung der Weltmarktabhängigkeit durch stärkere Regionalisierung, Lokalisierung und Dezentralisierung[16]: Regionalisierung statt Globalisierung 

Im Rahmen regionaler und lokaler Märkte hätten auch alternative Geld- und Tauschsysteme eine größere Chance der Realisierung und könnten mit dazu beitragen, den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen und die teuflische Dynamik des Zinses zu überwinden. Ein Schuldenerlaß im „Erlaßjahr 2000“ könnte vorübergehend den Druck des Schuldenberges lindern und Raum schaffen für grundlegende Umorientierungen. Aber dieser Raum müßte auch genutzt werden, und dafür bedarf es zukunftsweisender Konzepte, die aus einer mit Gewalt verschütteten und verdrängten Vergangenheit viel lernen können.   

[1] Überarbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrags zur Podiumsdiskussion auf dem Ökumene-Tag des Ökumenischen Rats Berlin-Brandenburg zum Thema „Erlaßjahr 2000“ in der St. Marien-Kirche in Berlin-Mitte am 3. Sept. 1998

[2] Roland Geitmann: Bibel, Kirchen und Zinsverbot, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, Heft 80, 1989, Gauke-Verlag Lütjenburg

[3] a.a.O.

[4] a.a.O.

[5] Gunnar Heinsohn / Otto Steiger: Eigentum, Zins und Geld - Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft, Rowohlt-Verlag, Reinbek 1966

[6] Bernd Senf: Der Nebel um das Geld - Zinsproblematik, Währungssysteme, Wirtschaftskrisen GAUKE - 6. überarbeitete Auflage Okt. 2001 -  ISBN: 3879984352

[7] Margrit Kennedy: Geld ohne Zinsen und Inflation, Wilhelm-Goldmann-Verlag, München 1993

[8] Helmut Creutz: Das Geldsyndrom - Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft, Ullstein-Taschenbuch, Frankfurt am Main/Berlin 1995

[9] Das Hauptwerk von Silvio Gesell ist sein Buch „Die natürliche Wirtschaftsordnung“ von 1916, Gesammelte Werke, Band 11, Gauke-Verlag, Lütjenburg 1991. Seine Gesammelten Werke, herausgegeben von Werner Onken, umfassen 18 Bände.

[10] Diese Beispiel habe ich dem Buch von Margrit Kennedy „Geld ohne Zinsen und Inflation“, a.a.O., S. 22, entnommen.

[11] Siehe hierzu das Kapitel „Der Zins und die Schuldenkrise der Dritten Welt“, entnommen aus: Bernd Senf: Der Nebel um das Geld, a.a.O., S. 109 -117

[12] Siehe hierzu Helmut Creutz: Das Geldsyndrom, a.a.O., S. 253

[13] Siehe hierzu Werner Onken: Modellversuche mit sozialpflichtigem Boden und Geld, Gauke-Verlag, Lütjenburg 1997

[14] „DER DRITTE WEG“ ist auch der Titel einer Zeitschrift, die sich auf das Werk von Silvio Gesell und die Freiwirtschaftslehre bezieht und den Bezug zu gegenwärtigen ökonomischen, ökologischen  und sozialen Problemen herstellt. Sie enthält auch eine Fülle von Hinweisen auf weiterführende Literatur. Bezugsadresse: Rappenbergstr. 64, D-91757 Treuchtlingen

[15] Siehe hierzu Maria Mies: „Moral Economy“ und Subsistenzperspektive im Norden und Süden, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, Heft 118, Gauke-Verlag Lütjenburg, September 1998

[16] „Eine solche Gesellschaft/Wirtschaft wird auf den Prinzipien der Regionalisierung/Lokalisierung und Dezentralisierung beruhen und nicht mehr auf dem globalen Handel. Nur in einer regionalen Ökonomie können Menschen Verantwortung für und Kontrolle über die gemeinsschaftlichen Ressourcen, die Natur, die Arbeitsbedingungen, die Nahrung haben ... Die Produzenten werden produzieren, was die Menschen der Region brauchen - und nicht für einen anonymen Weltmarkt.“ (Maria Mies, a.a.O., S. 24)

Vertiefende Literatur zu diesem Thema

Bernd Senf: Der Nebel um das Geld - Zinsproblematik, Währungssysteme, Wirtschaftskrisen
GAUKE - 6. überarbeitete Auflage Okt. 2001 -  ISBN: 3879984352

Bernd Senf: Die blinden Flecken der Ökonomie - Wirtschaftstheorien in der Krise
dtv - 2. Auflage April 2002 - ISBN: 3423362405

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http://www.geldreform.de

Ein Online-Archiv mit Materialien zur Geld- und Zinsproblematik

http://www.equilibrismus.de Die tragenden Säulen des Equilibrismus-Konzeptes sind 1.Öko-Alternativen / Effizienz- und Strukturneugestaltung, 2.Natürliches Kreislauf-Wirtschaftssystem, 3.Nachhaltige Wirtschaftsordnung und 4.Weltbürgertum und Reform der Vereinten Nationen.

 

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Version: 22.05.08 15:24:54