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Bernd Senf in 
»emotion 1«
- die-wilhelm-reich-zeitschrift
Triebenergie, Charakterstruktur, Krankheit und Gesellschaft

»emotion«
will den Versuch machen, den inneren Zusammenhang der Reichschen Forschungen in möglichst verständlicher Form herauszuarbeiten und deren Bedeutung für die emanzipatorische Bewegung zu diskutieren. Dieser Versuch ist schon deshalb nicht leicht, weil die Forschungen von Reich immer wieder die traditionellen Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen gesprengt haben. 

Die neuste Ausgabe ist beim Ulrich Leutner Verlag zu erhalten!
 

 

 

 


Triebenergie, Charakterstruktur, Krankheit und Gesellschaft (1980)
Von Bernd Senf  
Vollständiger Artikel als PDF Datei (154k)  

Eine Einführung in Reichs Theorie vom Charakterpanzer 

Die vorliegende Zeitschrift will auf der Grundlage der Forschungen von
Wil­helm Reich das Verhältnis zwischen Triebenergie, Charakterstruktur, Krank­heit und Gesellschaft diskutieren. Es wird davon ausgegangen, daß die indi­viduellen Charakterstrukturen der Menschen sich herausbilden aus der Kon­frontation einer nach lebendiger Entfaltung drängenden Triebenergie mit einer repressiven, die Triebentfaltung blockierenden Umwelt. Die unmittel­bare soziale Umwelt des Individuums steht dabei in Zusammenhang mit der ökonomischen, politischen und sozialen Struktur der Gesellschaft insgesamt. Die Konfrontation zwischen lebendiger Triebenergie und repressiven gesellschaftlichen Strukturen zwingt das Individuum zu einer mehr oder weniger starken »Verdrängung« seiner Triebbedürfnisse, führt zu einer charakterlichen Abpanzerung und wird zur Wurzel für Angst, Krankheit und Brutalität.

Dies sind
- ganz grob - einige wesentliche Forschungsergebnisse von Reich über den Zusammenhang von Triebenergie, Charakterstruktur, Krankheit und Gesellschaft. Bevor wir im einzelnen auf den Forschungsprozeß eingehen, durch den Reich auf diese Ergebnisse gestoßen ist, und ehe die unterschiedlichen konkreten Bedingungen diskutiert werden, die zur Heraus­bildung unterschiedlicher Charakterstrukturen führen, soll im folgenden zu­nächst der psychische Mechanismus der Verdrängung veranschaulicht werden, wie er im Prinzip allen Prozessein der Charakterbildung zugrunde liegt. Diese Veranschaulichung wird zunächst mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben können. Aber darin liegt zugleich ihr Vorteil: Denn die sich daraus ergebenden Fragen stehen in einem inneren Zusammenhang, und ihre weitere Verfolgung im Rahmen dieser Zeitschrift kann dazu beitragen, einzelne Aspekte zu vertiefen, ohne dabei den Gesamtzusammenhang der Fragestellung aus den Augen zu verlieren. 

Die folgende Veranschaulichung dient also mehr einer Strukturierung der zu diskutierenden Probleme und einer Motivierung, sich mit den aufgeworfe­nen Fragen tiefer auseinanderzusetzen, als daß sie fertige Antworten liefern will. Die darin enthaltenen Aussagen sind zunächst als Thesen zu verstehen, die es in der weiteren Diskussion anhand der Reichschen Forschungen zu untermauern gilt und die sich einer Konfrontation mit anderen Erklärungs­ansätzen stellen wollen. Erst in einer solchen Konfrontation mit anderen Ansätzen wird sich erweisen können, ob und inwieweit der Reichsche Ansatz in der theoretischen Erklärung bestimmter Phänomene und in der Entwick­lung einer emanzipatorischen Praxis diesen überlegen ist. 

Triebenergie und natürliche Triebentfaltung

Entsprechend den Entdeckungen Wilhelm Reichs ist jeder Mensch von Natur aus mit einer Triebenergie ausgestattet, die nach lebendiger Entfal­tung drängt. Die konkreten Formen der Triebentfaltung sind dabei je nach Entwicklungsphase unterschiedlich und werden - wenn sie nicht von außen, d.h. gesellschaftlich blockiert werden - jeweils als lustvolle Befriedigung er­lebt. Die psychosexuelle Entwicklung des Kindes z.B. durchläuft verschie­dene Phasen (von der Psychoanalyse als orale, anale, genitale Phase bezeich­net), in denen sich die Entladung der Triebenergie schwerpunktmäßig jeweils unterschiedlich manifestiert: In der oralen Phase durch Saugen, Nahrungs­aufnahme und Mundkontakt zur Mutter, in der analen Phase beim Ausscheiden der Exkremente (was als erste produktive Leistung erlebt wird), in der genitalen Phase durch intensive Lustgefühle im Genitalbereich und entsprechende Entspannung (durch Onanie oder sexuelle Spiele mit anderen). Diese psychosexuelle Entwicklung geht einher mit einer zuneh­mend kreativen Aneignung der Umwelt (Kreativität) und mit einer körper­lichen Umsetzung der Triebenergien in Wachstum und Bewegung (Motorik). - Die Triebenergie bildet also den Antrieb für die konkrete Umsetzung in Sexualität (im weitesten Sinn von Sinnlichkeit, Körperlichkeit), Kreativität und Motorik. Reich hat vor allem untersucht, welche Auswirkungen sich aus einer Blockierung der Triebentfaltung im Bereich der Sexualität (einschließ­lich der kindlichen Sexualität) für die psychosoziale Entwicklung des Indivi­duums und damit zusammenhängend für soziale Prozesse ergeben und wie die sozialen Prozesse wiederum zurückwirken auf die individuelle Triebentfaltung...

Die folgenden Schwerpunkte sind zusätzlich in der PDF-Datei (154k) zu finden:

  • Triebunterdrückung und Verdrängung

  • Verdrängung und Neurose

  • Schichtweise Verdrängung und Charakterpanzer

  • Charakterpanzer und körperlicher Panzer

  • Körperlicher Panzer, Triebstauung und Krankheit

  • Triebunterdrückung, Anpassung und Destruktion

  • Funktionelle Einheit von Gegensätzen

  • Destruktive Erscheinungsformen unserer Gesellschaft

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Die Forschungen Wilhelm Reichs (I) (1980)
VON BERND SENF  
Vollständiger Artikel als PDF Datei (246k)

Dieser Text erschien auch im Buch "Nach Reich"
 
Es
wird aufgezeigt, wie sich der Freud-Schüler Wilhelm Reich schrittweise über den Rahmen der Psychoanalyse hinausbewegte und Grundlagen für eine neue For­schungsrichtung, die Sexualökonomie, legte. Zum einen stellte er der Freudschen These vom natürlichen Destruktionstrieb die These entgegen, daß Destruktivität eine sekundäre Folge unterdrückter liebevoller Sexualität sei; zum andern fragte er nach den gesellschaftlichen und historischen Ursachen von Sexualunterdrückung und ihren individuellen wie gesellschaftlichen Auswirkungen. Seine Weiterent­wicklung der Therapie - von der Psychoanalyse über die Charakteranalyse zur körperorientierten Vegetotherapie - wird ebenso erläutert wie seine sexualrefor­merischen Aktivitäten und seine sexualökonomisch fundierte Gesellschaftskritik (Massenpsychologie des Faschismus, Sexuelle Revolution). Danach wird beschrieben, wie Reich den Zusammenhang zwischen emotionalen und körperlichen Panzerungen aufdeckte und mit seiner Vegetotherapie die Grundlagen körperorientierter Psychotherapien legte. Die Beobachtung von Pul­sation und Strömungsempfindungen führte ihn zur Erforschung der Plasmabewe­gungen von Einzellern und zur Frage nach deren Entstehung (Biogenese). Er be­obachtete einen Strukturzerfall absterbenden Gewebes in winzige Bläschen, die sich spontan zu neuen lebenden Einzellern organisierten. Die Entdeckung einer natürlichen Selbstorganisation brachte das Fundament des mechanistischen Welt­bilds ins Wanken. 

Von der Psychoanalyse über die Charakteranalyse zur Sexualökonomie

Vorurteile gegenüber Reich


Erwähnt man heutzutage in irgendwelchen Zusammenhängen den Na­
men Wilhelm Reich, so muß man auf die unterschiedlichsten Assoziatio­nen und Reaktionen gefaßt sein: 

  • Reich? Ist das nicht der mit der Orgasmustheorie? Der alles aus der Sexualität erklären will? Ganz schön einseitig, wie man heute weiß...

  • Reich? Der war doch in der antiautoritären Bewegung mal »in«. Aber über diese Phase sind wir ja nun mittlerweile hinaus.

  • Reich? Hat der nicht was über Sexualunterdrückung geschrieben? Aber das spielt ja heute keine Rolle mehr...

  • Reich? Auf den beruft sich doch die AAO. Und das ist ja eine ganz schön faschistische Organisation.

  • Reich? Der hat doch was mit Bioenergetik zu tun, aber mit Politik?

  • Reich? Das ist doch der mit dem Orgon-Kasten, oder wie das Ding heißt. Ein ganz schöner Spinner...

  • Reich? Ist der nicht irgendwann mal eingelocht worden, weil er in der Therapie mit seinen Patientinnen gebumst hat?

  • Reich? Ja, Sexuelle Revolution und Massenpsychologie des Faschismus, das waren wichtige Schriften. Aber irgendwann ist der doch verrückt geworden.

  • Reich? Hör mir bloß auf mit den unpolitischen Spinnern und Flippis !

Solche und ähnliche Assoziationen und Reaktionen sind auch heute noch mehr die Regel als die Ausnahme bei denjenigen, die den Namen Reich überhaupt schon mal gehört haben. Viele können mit seinem Namen überhaupt nichts anfangen. Das Zirkulieren solcher Vorurteile und solch bruchstückhaften Wissens über Reich und der Aufbau entsprechender Ab­wehrhaltungen ist symptomatisch für die absolut lückenhafte Rezeption und für die Entstellung, die das für die Emanzipationsbewegung bedeu­tende Werk von Wilhelm Reich bis heute - über zwanzig Jahre nach sei­nem Tod - erfahren hat. Und die westdeutsche und Westberliner Linke macht - abgesehen von einer kurzen Phase während der Studentenbewe­gung Ende der sechziger Jahre - bei dieser Ignoranz und Arroganz ge­genüber dem Werk von Reich durchaus keine Ausnahme. In anderen Ländern ist die Offenheit gegenüber Reich wesentlich größer, und ent­sprechend findet teilweise eine intensive Auseinandersetzung mit seinem Werk statt. In Frankreich und Italien zum Beispiel wird von verschiede­nen Gruppen der Versuch gemacht, das Reichsche Werk nicht nur in sei­ner Gesamtheit zu diskutieren, sondern die Erkenntnisse von Reich über den Zusammenhang von Triebunterdrückung und Massenerkrankung auch in die politische Praxis umzusetzen. Im deutschen Sprachraum bedurfte es wohl erst eines Rudolf Bahro, um auf die fundamentale Be­deutung von Reich für die Theorie und Praxis der psychosozialen Eman­zipation aufmerksam zu machen und die Linke zu einer vorurteilsfreien Auseinandersetzung mit Reich beziehungsweise zu einem Kampf gegen die diesbezüglichen Vorurteile zu ermuntern.

Angesichts des weitverbreiteten Defizits in der Rezeption des Reichschen Werks und angesichts der Tatsache, daß - wenn überhaupt eine Ausein­andersetzung stattfindet - immer wieder einzelne Teile aus dem Gesamt­zusammenhang herausgerissen und dadurch in ihrer Bedeutung entstellt werden, soll im folgenden vor allem der innere Zusammenhang des Reich­schen Gesamtwerks herausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck wird ver­sucht, unter Verzicht auf Details grob die einzelnen Entwicklungsschritte in den Forschungen und Aktivitäten von Reich nachzuzeichnen. 

Einige Grundlagen der Freudschen Psychoanalyse

Anfang der zwanziger Jahre kam der Mediziner Reich in Wien in Be­rührung mit der von Sigmund Freud entwickelten Psychoanalyse. Freud war darauf gestoßen, daß die Wurzel vieler psychischer Erkrankungen die »Verdrängung« psychischer Konflikte aus der Kindheit war. Die ursprüng­lich spontanen Triebbedürfnisse waren bei den Patienten in Konflikt mit einer triebversagenden Umwelt geraten und durch einen innerpsychi­schen Mechanismus ins Unbewußte abgeschoben worden. Im Unbewußten wühlten diese verdrängten Bedürfnisse und die sie antreibenden psy­chischen Energien jedoch weiter und suchten sich - unter Umgehung der bewußten Kontrolle des Individuums - andere Ventile der Entladung, zum Beispiel in Form von neurotischen Zwangssymptomen oder in Form psychosomatischer Erkrankungen, aber auch in Träumen und sogenann­ten Fehlleistungen (Versprechern, Vergessen, Verlegen). Die krankhaften Symptome standen in jedem Fall in Zusammenhang mit dem verdrängten Konflikt, aber der Zusammenhang war den Patienten nicht weiter bewußt. Dennoch entdeckte Freud in den Trauminhalten wie in den Assoziationen (was den Leuten an Gedanken, Gefühlen und Bildern durch den Kopf schwirrte) verschlüsselte Informationen über den zugrundeliegenden und verdrängten psychischen Konflikt. In den zunächst völlig unverständlichen Informationen entdeckte er eine innere Logik (»Psycho-Logik«), deren Anwendung in der psychoanalytischen Therapie es ermöglichte, den Patienten die verdrängten Konflikte bewußt zu machen. Das Bewußtwerden des Konflikts war jedesmal verbunden mit starker emotioneller Betroffenheit, in denen die frühere Konflikt­situation noch einmal durchlebt wurde. Bei gelungener Therapie bestand die Folge dieses Bewußtwerdungsprozesses in einer Auflösung der Ver­drängung und damit auch des krankhaften Symptoms. Wesentlicher Gegenstand der Entschlüsselung, der sogenannten psycho­analytischen »Deutung«, war das vom Patienten hervorgebrachte psychi­sche »Material«, das heißt die vom Bewußtsein nicht kontrollierten und zensierten Trauminhalte beziehungsweise der Inhalt der durch den Kopf schwirrenden Assoziationen. Die Patienten wurden angehalten, bei der Erzählung ihrer Trauminhalte und Assoziationen die verstandesmäßige Kontrolle möglichst vollständig auszuschalten, das heißt alles zu erzählen, selbst wenn es ihnen vom Verstand her noch so unsinnig und unzusam­menhängend erschien oder von der Moral her noch so schlimm und ver­boten. Freud nannte diese Methode der psychoanalytischen Therapie »freie Assoziation«.

Mit dieser Methode gelang es, die bis dahin verdrängten psychischen Konflikte und die darin enthaltene Konfrontation zwischen Triebbedürf­nissen und äußeren Triebversagungen an die Oberfläche des Bewußtseins sprudeln zu lassen. Das auf diese Weise hochsprudelnde Material ließ demnach Rückschlüsse darüber zu, was an tieferliegenden Triebbedürf­nissen schon im Kind angelegt war und welche konkreten Mechanismen im einzelnen wirksam geworden waren, um das Ausleben der sponta­nen Triebbedürfnisse zu verhindern. So unterschiedlich die psychischen Erkrankungen der einzelnen Patienten und so unterschiedlich ihre in­dividuelle Entwicklung waren, es stellte sich für Freud immer wieder heraus, daß bereits in der Kindheit spontane sexuelle Bedürfnisse vorhan­den waren, die sich in unterschiedlichsten Entwicklungsphasen unter­schiedlich äußerten und deren Unterdrückung zum Aufbau entsprechen­der Verdrängungen geführt hatte.

Reichs Weiterentwicklung der Psychoanalyse

Mit diesen Erkenntnissen der Psychoanalyse machte sich der junge Reich nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch vertraut. Als Schüler und Mitarbeiter von Freud praktizierte er die psychoanalytische Therapie und leitete in Wien das psychoanalytische (technisch-therapeutische) Semi­nar, in dem die Psychoanalytiker die Technik der Psychotherapie dis­kutierten und weiterentwickelten. Im Rahmen des in Wien aufgebauten psychoanalytischen Ambulatoriums mit kostenloser psychotherapeuti­scher Beratung wurde Reich zunehmend konfrontiert mit dem massen­haften psychischen Elend vor allem auch unter den Arbeitern. 

Neurose und orgastische Potenz

Die klinischen Erfahrungen in der psychoanalytischen Behandlung von Patienten - gleich welcher sozialer Schicht - ließen für Reich immer deut­licher werden, daß jede psychische Erkrankung einhergeht mit einer Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit, über die bis dahin im Rahmen der Psychoanalyse nur oberflächlich oder überhaupt nicht geforscht wurde. Ein genaueres Hinterfragen des sexuellen Verhaltens und Empfindens jenseits der Worte »ich habe mit einer Frau beziehungsweise mit einem Mann geschlafen« war nach Reich in der Psychoanalyse stark verpönt (Reich 1972:80). Bei genauerer Analyse des sexuellen Verhaltens und Empfindens stellte sich für Reich heraus, daß sich beim Mann hinter einer erektiven Potenz beziehungsweise bei der Frau hinter einem klitoralen Or­gasmus durchaus eine mehr oder weniger starke Blockierung der sexuel­len Empfindungsfähigkeit und eine Unfähigkeit zur körperlich-emotio­nellen Hingabe verbergen kann.

Im Unterschied dazu prägte Reich den Begriff der »orgastischen Potenz« für die ungehemmte sexuelle Erlebnisfähigkeit und Hingabefähigkeit an die emotionellen Strömungen und unwillkürlichen lustvollen Körper zuckungen im Geschlechtsakt - bei vollständiger emotioneller Überflu­tung und Ausbleiben bewußten Denkens und unbewußter Phantasien im Orgasmus. (Der Begriff »orgastische Potenz« sollte zu einem zentralen Begriff der charakteranalytischen und sexualökonomischen Forschung werden [ebd.:76f]). Reich hatte beobachtet, daß diese Fähigkeit bei weniger neurotischen Menschen in der Tendenz eher gegeben war als bei stärker neurotischen. Von daher vermutete er (was sich später im Zuge der systematischen Auflösung der Verdrängungen immer mehr bestä­tigte), daß ein untrennbarer Zusammenhang besteht zwischen psychischer Erkrankung und orgastischer Impotenz beziehungsweise zwischen see­lischer Gesundheit und voller Orgasmusfähigkeit. Seine auf vielfältige Erfahrungen gestützte Hypothese, die von den traditionellen Psychoana­lytikern als grobe Vereinfachung und Vereinseitigung empfunden wurde, lautete:

»Die Schwere jeder Art seelischer Erkrankung steht in direktem Ver­hältnis zur Schwere der genitalen Störung. Die Heilungsaussicht und die Heilerfolge hängen direkt von der Möglichkeit ab, die volle genitale Be­friedigungsfähigkeit herzustellen.« (ebd.:77)

Widerstandsanalyse, Charakteranalyse und volle Orgasmusfähigkeit

In der Herstellung der vollen Orgasmusfähigkeit (deren Qualität sich im Zuge der später entwickelten systematischen Auflösung des »Charakter­panzers« immer klarer herausstellte) lag demnach für Reich die zentrale therapeutische Aufgabe. Ihre Lösung war nur möglich, wenn alle der psychischen Erkrankung zugrundeliegenden Verdrängungen aufgelöst wurden. Die Anwendung der psychoanalytischen Therapie stieß dabei - entgegen den anfänglichen Erfolgen in einzelnen Fällen - zunehmend auf Schwierigkeiten. 

Widerstandsanalyse und Aufhebung der Verdrängung 

Längst nicht alle Patienten waren in der Lage, sich der »freien Asso­ziation« ihrer Gedanken und Gefühle hinzugeben und/oder die Assozia­tionen den Therapeuten gegenüber sprachlich auszudrücken. Während die einen - insbesondere die Intellektuellen - sich emotionell hinter einer ausgefeilten und differenzierten Sprache verschanzten und ihr Denken als Kontrollinstanz nie wirklich ausschalten konnten, hatten Patienten aus unteren sozialen Schichten oft Schwierigkeiten, ihre freier fließenden Assoziationen dem Therapeuten gegenüber sprachlich zu vermitteln. In solchen Fällen, wo die traditionelle analytische Methode des Aufspürens verdrängter Inhalte durch »freie Assoziationen« scheiterte, bemerkte Reich bei seinen Patienten immer wieder eine starre, rigide Haltung, die sich in den verschiedensten konkreten Formen äußern konnte: zum Beispiel in einem ständigen gleichförmigen Grinsen, in einem nervösen Herumfummeln mit den Händen, in einer gleichförmig lauten Sprech­weise oder einer Überhöflichkeit. So unterschiedlich die einzelnen Aus­drucksformen sein konnten, das Gemeinsame an ihnen war ihre Rigidi­tät, ihre vollkommen unspontane Art, ihr erstarrter, maskenhafter Cha­rakter. Reich erkannte in diesen rigiden Haltungen einen Widerstand des Patienten gegen ein Aufbrechen seiner verdrängten Konflikte, eine sogenannte »Abwehrhaltung«, und widmete sein besonderes Interesse der Analyse dieser Widerstände (»Widerstandsanalyse«). Reich schreibt dazu: »So prägten sich uns die Begriffe von geordneter und systematischer Arbeit an den Widerständen. Die Neurose zerfällt in der Behandlung so­zusagen in einzelne Widerstände, die man säuberlich auseinanderhalten und gesondert beseitigen muß, immer vom Oberflächlichsten, dem be­wußten Empfinden des Kranken Nächstliegenden her. Das war nicht neu, nur konsequente Durchführung der Freudschen Auffassung. Ich riet ab, den Patienten >überzeugen< zu wollen, daß eine Deutung richtig wäre. Ist der entsprechende Widerstand gegen eine unbewußte Regung begriffen und beseitigt, dann greift der Kranke von selbst dazu. Im Widerstand ist daher dasjenige Triebelement, wogegen er sich richtet, enthalten. Er­kennt er den Sinn der Abwehr, dann ist er schon dabei, das Abgewehrte zu erfassen. Doch das erfordert genaue und konsequente Aufdeckung jeder leisesten Regung von Mißtrauen und Ablehnung im Patienten.« (ebd.:94) 

Schichtweise Verdrängung und Charakterpanzer 

Mit dem Zusammenbruch eines Widerstands und dem Durchbruch der bis dahin verdrängten Emotionen und Gedanken zeigten sich in der Regel andersartige Verhärtungen und Widerstände, die es wiederum aufzulösen galt und so weiter. Aus dieser schichtweisen Auflösung der Widerstände und dem Aufbrechen der darunterliegenden Verdrängung ergab sich ein schichtweises Abtragen der Charakterverhärtungen, von »charakterlichen Panzerungen«. Reich:

»Durch den Begriff der >Panzerung< eröffneten sich für die klinische Ar­beit viele Möglichkeiten. Die seelischen Kräfte und Widersprüche boten kein Chaos mehr, sondern ein geordnetes, historisch und strukturell greifbares Gewebe dar. Die Neurose jedes Einzelfalls enthüllte eine be­sondere Struktur. Es gab einen Aufbau der Neurose entsprechend der Ent­wicklung. Was in der Kindheit zeitlich am spätesten verdrängt war, lag am oberflächlichsten. [...]

Ich verglich die charakterlichen Schichtungen mit geologischen Schicht­ablagerungen, die ebenfalls erstarrte Geschichte sind. Ein Konflikt, der in einem bestimmten Lebensalter ausgekämpft wurde, läßt regelmäßig eine Spur im Wesen zurück. Die Spur verrät sich als Charakterverhärtung. Sie funktioniert automatisch und läßt sich schwer beseitigen. Der Kranke empfindet sie nicht als fremd, doch oft als erstarrt oder als Verlust an Lebendigkeit. Jede derartige Schicht der charakterlichen Struktur ist ein Stück Lebensgeschichte, in anderer Form aktuell erhalten und wirksam. Die Praxis zeigte, daß sich durch ihre Auflockerung der alte Konflikt mehr oder minder leicht wiederbeleben ließ. Waren die erstarrten Konflikt­schichten besonders zahlreich und automatisiert, bildeten sie eine kom­pakte Einheit, die man schwer durchdringen konnte, so fühlte man sie wie einen Panzer, der den lebendigen Organismus umgab. [...]

Die Energie, die den Panzer zusammenhielt, war meist gebundene De­struktivität. Das zeigte sich dadurch, daß sofort Aggression frei zu werden begann, wenn man den Panzer erschütterte. Woher stammte die dabei auftretende destruktive und haßvolle Aggression? Welche Funktion hatte sie? War sie natürliche, biologische Destruktion?« (ebd.: 113) 

Die klinische Widerlegung der These vom natürlichen Destruktionstrieb 

»Jahre vergingen, ehe ich Klarheit hatte. Die im Charakter gebundene Destruktivität ist nichts als Wut über die Versagung im Leben und über den Mangel an sexueller Befriedigung. Ging man in die Tiefe vor, so wich jede destruktive Regung einer sexuellen. Die Destruktionslust war nur die Reaktion auf Enttäuschung in der Liebe oder auf Liebesverlust. Wenn man Liebe und Befriedigung drängender Sexualität anstrebt und auf un­überwindliche Hindernisse stößt, dann beginnt man zu hassen. Doch der Haß kann nicht ausgelebt, er muß gebunden werden, um die Lebensangst zu vermeiden, die er veranlaßt. Versagte Liebe macht also Angst. Ebenso macht gebremste Aggression Angst; und Angst bremst Haß- und Liebes­ansprüche. Ich verstand nun theoretisch im Aufbau, was ich beim Abbau der Neurose analytisch erlebte: das gleiche in umgekehrter Ordnung, und buchte das wichtigste Ergebnis: Der orgastisch unbefriedigte Mensch entwickelt ein unechtes Wesen und Angst vor automatischen, lebendigen Reaktionen, also auch vor der vegetativen Selbstwahrnehmung.« (ebd.: 114)

Mit der Methode der Charakteranalyse war es Reich also gelungen, die einzeln im Charakterpanzer übereinandergelagerten Schichten von Ver­drängungen aufzulösen und bis zum Kern der Neurose vorzudringen, das heißt die ursprünglichen Triebtendenzen des Individuums freizulegen. Dabei stellte sich heraus, daß Destruktivität immer nur eine Folge der Ver­drängung tieferliegender sexueller Triebe war. Die Vorstellung von einem ursprünglich biologischen Destruktionstrieb des Menschen, die der späte Freud in die Diskussion gebracht hatte und die seither immer als Recht­fertigung reaktionärer Auffassungen von Zucht und Ordnung herhalten mußte, war damit grundlegend widerlegt. 

Auflösung des Charakterpanzers und charakterliche Selbststeuerung 

Die Anwendung der charakteranalytischen Technik und die systematische Auflösung der Charakterpanzerungen brachten nicht nur eine Verände­rung der sexuellen Empfindungsfähigkeit mit sich, sondern auch grund­legende Veränderungen im gesamten Denken, Fühlen und Verhalten der Patienten:
»Stand das gesamte Handeln und Denken des Betreffenden früher unter mehr oder weniger scharfem und störendem Einfluß unbewußter, irra­tionaler Motive, so erweitert sich jetzt seine Fähigkeit immer mehr, nicht aus irrationalen, sondern aus der Wirklichkeit entsprechenden Gründen zu reagieren. [...] War der Kranke vorher schwer abgepanzert, ohne Kontakt mit sich selbst und seiner Umgebung, oder nur mit Ersatzfunk­tionen unnatürlicher Art ausgestattet, so erhält er immer mehr die Fähig­keit zu unmittelbarem statt des früher unnatürlichen Gehabens.« (Reich 1971:29)
An die Stelle »moralischer Regulierung« durch Angst und Schuldgefühle
trat eine »charakterliche Selbststeuerung«:
»Gelingt es dem Gesundenden, den passenden Partner im Geschlechts­leben zu finden, dann zeigt sich nicht nur, daß alle nervösen Symptome verschwinden - mehr, er kann nun mit erstaunlicher Leichtigkeit, die ihm früher unbekannt war, sein Leben ordnen, Konflikte unneurotisch er­ledigen, und er entwickelt eine automatische Sicherheit in der Lenkung seiner Impulse und sozialen Beziehungen. Dabei folgt er durchaus dem Prinzip der Lebenslust. Die Vereinfachung seiner Einstellung zum Leben in Struktur, Denken und Fühlen beseitigt viele Quellen von Konflikten aus seinem Dasein. Gleichzeitig damit erwirbt er eine kritische Einstel­lung zur heutigen moralischen Ordnung. Dem Prinzip der moralischen Regelung des seelischen Haushalts steht also die sexualökonomische Selbststeuerung gegenüber.« (ebd.: 32).....

Die folgenden Schwerpunkte sind zusätzlich in der PDF-Datei (246k) zu finden:

  • Analyse der gesellschaftlichen Hintergründe psychischer Massenerkrankungen

  • Autoritäre Kleinfamilie als Produktionsstätte angepaßter Charakterstrukturen

  • Die Massenpsychologie des Faschismus

  • Die Verbindung von dialektischem Materialismus und Psychoanalyse

  • Körperpanzer, Vegetotherapie, Bionforschung

  • Die körperliche Verankerung der Emotionen

  • Funktionelle Identität von Psyche und Körper

  • Segmentpanzerung - gemeinsame Wurzel psychischer und psychosomatischer Krankheiten

  • Bionforschung

 

 
Zwangsmoral oder sexualökonomische Selbststeuerung (1980)
Von Uwe Schröder und Bernd Senf  Vollständiger Artikel als PDF Datei (138k)

Eine Einführung in Wilhelm Reichs »Die sexuelle Revolution« Teil 1

„Das Ziel einer Kulturrevolution ist die Herstellung menschlicher Charakterstrukturen, die zur Selbststeuerung fähig sind.“ 
(Wilhelm Reich: Die sexuelle Revolution, S.47)

Vorbemerkung: 

Wilhelm Reichs »Die sexuelle Revolution« (1) besteht aus zwei Teilen. Der erste erschien 1929 unter dem Titel »Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit und Ehemoral - eine Kritik der bürgerlichen Sexualreform«. Dieses Buch beruht auf den klinischen und politischen Erfahrungen, die Reich in den zwanziger Jahren in Wien gemacht hatte. Der zweite Teil (»Der Kampf um das 'neue Leben' in der Sowjetunion«) entstand aus einem Aufenthalt Reichs in der UdSSR 1929, der ihn zu einer Änderung seiner bis dahin posi­tiven Haltung gegenüber der kulturpolitischen Entwicklung in der UdSSR bewog. Der folgende Aufsatz beschränkt sich auf eine Einführung in das erste Kapitel des ersten Teils und versucht, die durch das ganze Buch sich hindurchziehende Fragestellung für die Analyse der sozialen Ordnung des Geschlechtslebens herauszuarbeiten. Die Kapitel V (»Die Zwangsfamilie als Erziehungsapparat«) und VII (»Zwangsehe und sexuelle Dauerbeziehung«) werden in dem Aufsatz »Autoritäre Kleinfamilie und Sexualunterdrückung« an anderer Stelle dieses Heftes behandelt. (2) 

Der Einfluß der politischen Situation auf die Arbeiten von Reich  

Seine Erfahrungen aus der klinischen Arbeit insbesondere auch mit Patienten aus der Unterschicht (und nicht ein vorweg bezogener ideologischer Standpunkt) brachten Reich dazu, in die sexualpolitische Debatte der zwan­ziger und dreißiger Jahre einzugreifen. »Die sexuelle Revolution« bildet „ein geschlossenes Ganzes in der Widerspiegelung der sexualpolitischen Verhältnisse der zwanziger Jahre." (3) Deshalb soll zunächst ganz kurz Reichs Lebensweg im noch klerikal-monarchistisch durchsetzten Österreich und im Deutschland des aufkommenden Faschismus dargestellt (4) und dann auf die Erkenntnisse eingegangen werden, die Reich aus seinen therapeu­tischen Arbeiten gezogen hat.

Seit 1922 arbeitete Reich in Wien in der psychoanalytischen Klinik von Freud und (später) in »sexualhygienischen Beratungsstellen«. Dort wurde kostenlos über Verhütungsmittel, Abtreibung, Sexualerziehung usw. be­raten, so daß Reich schon bald mit dem materiellen und psychischen Elend der Arbeiter konfrontiert wurde. In dem Versuch, die gesellschaftlichen Ursachen der materiellen und psychischen Massenverelendung zu ergründen, beschäftigte er sich u.a. eingehend mit den Werken von Marx und Engels.

Nachdem Reich miterlebt hatte, wie von Seiten der Staatsgewalt eine brutale Schießerei auf demonstrierende Arbeiter verübt wurde, trat er voller Empö­rung der Kommunistischen Partei Österreichs bei. (5) Etwa zur gleichen Zeit entwickelten sich die Grundlagen der späteren Differenzen zwischen Reich und politisch engagierten Psychoanalytikern einerseits und Freud und den orthodoxen Psychoanalytikern andererseits, die sich vor allem auf die Frage nach den gesellschaftlichen Konsequenzen der psychoanalytischen Entdeckungen bezog. 1928 gründete Reich zusammen mit seiner damaligen Frau Anni und einigen befreundeten Analytikern und Frauenärzten die »Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung«, und eröffnete einige Zentren für sexualhygienische Beratung, die aufgrund ih­rer kostenlosen Behandlung bald überfüllt waren. Die Schwierigkeiten, die diesen Beratungszentren gemacht wurden, kamen nicht nur aus der monarchi­stisch-reaktionären Atmosphäre Wiens und nicht nur von den politischen Or­ganisationen der Rechten, sondern auch von denen der Arbeiterklasse.

Reich siedelte 1930 nach Berlin über, weil er für die Durchsetzung seiner sexualpolitischen Arbeit dort größere Möglichkeiten sah. Die Arbeiterbe­wegung in Berlin war wesentlich stärker als in Wien. Er wurde Mitglied der KPD. Auf seinen Vorschlag hin wurde innerhalb der KPD der »Deutsche Reichsverband für proletarische Sexualpolitik« als »Zentrum für Diskussion und Sexualhygiene« gegründet, der schon bald nach seiner Gründung über 20 000 Mitglieder hatte. Auf den »Instruktionsabenden« des Verbandes, der sich abgekürzt »SEXPOL« nannte, wurde von den vorgetragenen Alltagsproblemen der einfachen Mitglieder und der Funktionäre ausgegangen und nicht von globalen Weltzusammenhängen. Im Jahre der Machtergreifung des Nationalsozialismus wurde Reich aus der KPD ausgeschlossen (und ein Jahr später aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung). (6)..... 

Die folgenden Schwerpunkte sind zusätzlich in der PDF-Datei (138k) zu finden:

  • Klinische Grundlagen der sexualökonomischen Kritik

  • Die Anpassung der Psychoanalyse: Von einer revolutionären Wissenschaft zu einer konservativen Kulturtheorie

  • Probleme des Übergangs zu einer nicht-repressiven Gesellschaft
     

 

 
Autoritäre Kleinfamilie und Sexualunterdrückung (1980)
Von
Bernd Senf          Vollständiger Artikel als PDF Datei (141k)  

Eine Einführung in Wilhelm Reichs »Die sexuelle Revolution« Teil 2

„Es ist eine echte, tief umwälzende Revolution der kulturellen Seinsverhältnisse, die wir durchleben ... Die Umwälzung unseres Lebens greift tief an die Wurzel unserer emotionellen, sozialen und wirtschaftlichen Existenz ... Wenn ich von revolutionären Umwälzungen unserer kulturellen Seinsverhältnisse spreche, so habe ich vor allem die Ablösung der patriarchalisch-autoritären durch die natürliche Familienform im Auge". (Wilhelm Reich: Die sexuelle Revolution, S. 14f) 

Über seine Arbeit in den sexualpolitischen Beratungsstellen und in der Sex-Pol-Bewegung in Wien und Berlin wurde Reich mit dem auch unter Arbeitern weit verbreiteten psychischen Elend konfrontiert. Da sich für ihn in seiner klinischen Praxis ein unmißverständlicher Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und Sexualunterdrückung enthüllt hatte, ging er in seinen soziologischen Arbeiten systematisch der Frage nach den gesellschaftlichen Hintergründen und Funktionen der Sexualunterdrückung nach. Dies führte ihn zur genaueren Untersuchung der Struktur der autoritären Kleinfamilie und der in ihr typischerweise ablaufenden psychischen Prozesse sowie zur Auseinandersetzung mit der herrschenden Familienideologie und Sexualmoral. 

Die autoritäre Kleinfamilie spielt im Zusammenhang mit der Sexualunterdrückung und den damit einhergehenden zwangsmoralischen Regulierungen in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Rolle. Ihre besondere Struktur bewirkt: 

  • die Unterdrückung der kindlichen Sexualität als Kern für die Herausbildung ängstlicher und angepaßter autoritärer Charakterstrukturen (1)

  • die Unterdrückung der Sexualität der Jugendlichen und deren zwangsmoralische Vorbereitung auf die monogame Ehe (2)

  • die Frustrierung der sexuellen Bedürfnisse der Ehepartner und das Auslassen der Ehemisere an den Kindern (3)

Familienideologie und Ehemisere 

Die Struktur der autoritären Kleinfamilie (und die damit notwendig verbundene Sexualunterdrückung) bewirkt nach Reich gerade das Gegenteil dessen, was durch die herrschende Familienideologie als Wesen von Ehe und Familie verkündet wird: Die Sexualunterdrückung mache die Menschen liebesunfähig und erzeuge dadurch erst die Misere im Zusammenleben der Ehepartner - eine Misere, die in immer krasseren Widerspruch tritt zu den von der Familienideologie verbreiteten Normen von Ehe- und Familienglück. Trotz dieser Misere wird die Auflösung der Ehe aus ökonomischen, juristischen und moralischen Gründen erschwert bzw. unmöglich gemacht. Reich:

„Da es unwahrscheinlich, ja sexualökonomisch unmöglich ist, daß ein sexuell voll intakter Mensch sich den Bedingungen der ehelichen Moral unterwirft - nur ein Partner, und mit diesem lebenslänglich -, ist eine tiefgreifende Unterdrückung des Sexualbedürfnisses, vor allem bei der Frau, allererste Forderung ... Aber die gleichen Forderungen sind es, die die Ehe untergraben, sie schon bei ihrer Schließung dem Untergang weihen. Die Forderung der lebenslänglichen Geschlechtsgemeinschaft birgt von vornherein die Revolte gegen den Zwang in sich, die sich bewußt oder unbewußt umso heftiger gestaltet, je lebendiger und aktiver die sexuellen Bedürfnisse sind." (Sexuelle Revolution, S.150) 

„Die Ehen könnten, eine Zeitlang zumindestens, gut sein, wenn sexuelle Übereinstimmung und Befriedigung bestünde. Voraussetzung dessen wäre aber eine sexualbejahende Erziehung, sexuelle Erfahrenheit vor der Ehe, Überwindung der herrschenden gesellschaftlichen Moral. Das aber, was die Ehe unter Umständen gut gestaltet, ist gleichzeitig der Totengräber der Ehe, denn ist die Sexualität einmal bejaht, ist die moralische Anschauung über­wunden, dann gibt es kein inneres Argument gegen den Verkehr mit anderen Partnern (außer eine gewisse Zeit lang, aber sicher nicht lebenslänglich, die Treue aus Befriedigtheit); die eheliche Ideologie geht unter, die Ehe ist keine Ehe mehr, wohl aber eine sexuelle Dauerbeziehung, die sich gerade wegen der wegfallenden Unterdrückung der genitalen Wünsche, bei sonst gutem Einvernehmen im ganzen glücklicher gestalten kann, als es je die strenge Einehe vermag." (S.151) 

„So miserabel und trostlos, so leidvoll und unerträglich die Ehesituation und Familienkonstellation ist, ideologisch muß sie nach außen sowohl wie nach innen von den Familienmitgliedern verfochten werden. Die gesellschaftliche Notwendigkeit dieses Seins zwingt zum Vertuschen der Misere und zu ideologischem Hochhalten der Familie und Ehe, erzeugt auch die weit verbreitete Familiensentimentalität und die Schlagworte vom „Familienglück“, vom „trauten Heim“, vom „stillen Ruhepunkt“ und vom Glück, das die Familie angeblich für die Kinder bedeutet. Aus der Tatsache, daß es in unserer Gesellschaft außerhalb der Ehe und Familie noch trostloser aussieht, weil da jeder materielle, rechtliche und ideologische Schutz des Sexuallebens fehlt, schließt man auf die Naturnotwendigkeit der Familiensituation." (S.90) 

Zwangsfamilie als Produktionsstätte des Konservativismus 

Die ideologische Verklärung der an sich trostlosen Familiensituation hat nach Reich die gesellschaftliche Funktion, den tatsächlichen Herrschaftscharakter der Familienstruktur und der mit ihr einhergehenden Sexualunterdrückung zu verschleiern. In seinem Buch »Die sexuelle Revolution« geht es ihm vor allem darum, diesen Herrschaftscharakter der autoritären Kleinfamilie und ihre Funktion im Rahmen einer repressiven Gesellschaft herauszuarbeiten. Dabei kommt er zu folgender Einschätzung: 

„Die wichtigste Erzeugungsstätte der ideologischen Atmosphäre des Konservativismus ist die Zwangsfamilie. Ihr Grundtypus ist das Dreieck: Vater, Mutter und Kind. Während die konservative Anschauung in der Familie die Grundlage, wie manche sagen, die »Zelle« in der menschlichen Gesellschaft überhaupt sieht, erblicken wir in ihr bei Berücksichtigung ihrer Wandlungen im Laufe der historischen Entwicklung und ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion ein Ergebnis bestimmter ökonomischer Strukturen ... Wenn aber die konservative Sexualethik und die Rechtsordnung von der Familie immer wieder als der Grundlage des »Staates« und der »Gesellschaft« sprechen, so haben sie nur in dem Sinne recht, daß die Zwangsfamilie zum Bestand des autoritären Staates und der autoritären Gesellschaft untrennbar gehören. " (S.88)

„Ihre kardinale Aufgabe, diejenige, um deren willen sie von konservativer Wissenschaft und konservativem Recht am meisten verteidigt wurde, ist ihre Eigenschaft als Fabrik autoritärer Ideologien und konservativer Strukturen. Sie bildet den Erziehungsapparat, durch den fast ausnahmslos jedes Mitglied der Gesellschaft vom ersten Atemzug an hindurch muß. Nicht nur als Institution autoritärer Art, sondern, wie wir gleich sehen werden, kraft ihrer eigenen Struktur, beeinflußt sie das Kind im Sinne der konservativen Weltanschauung; sie ist der Mittler zwischen der wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft und deren ideologischem Überbau, sie ist durchtränkt von der konservativen Atmosphäre, die sich notwendigerweise in jedem ihrer Mitglieder unauslöschlich einprägt. Sie übermittelt durch ihre Formation und durch direkte Beeinflussung nicht nur allgemeine Einstellungen zur bestehenden Gesellschaftsordnung und konservative Gesinnungsart, sondern nimmt auch insbesondere durch die sexuelle Struktur, der sie entspringt und die sie weiterpflanzt, unmittelbaren Einfluß auf die sexuelle Struktur der Kinder in konservativem Sinn. Es ist kein Zufall, daß die Einstellung der Jugend für bzw. gegen die herrschende Ordnung bis zu einem sehr hohen Grad in einem proportionalen Verhältnis zu der Einstellung für bzw. gegen die Familie steht. Es ist auch kein Zufall, daß die konservative und reaktionäre Jugend im ganzen und großen, von abweichenden Einzelfällen abgesehen, familienanhänglich und -erhaltend, die revolutionäre Jugend dagegen familienfeindlich und -zerstörend ist und sich aus dem Familienverband mehr oder weniger vollständig löst. Das hängt mit der sexualfeindlichen Atmosphäre und Struktur der Familie, mit den Beziehungen der Familienmitglieder zueinander aufs innigste zusammen. “ (S.88f) 

Woraus leitet Reich derart weitreichende, in den Ohren der Konservativen geradezu ungeheuerlich klingende Thesen ab? Er gelangt zu einer solch radikalen Kritik der Zwangsfamilie aufgrund seiner charakteranalytischen Arbeit, bei der immer deutlicher wurde, welch schwerwiegende psychische Schäden durch die typische Struktur der autoritären Kleinfamilie bei deren Mitgliedern erzeugt worden waren; und daß diese psychischen Schäden not­wendig verbunden sind mit der Hervorbringung autoritärer Charakterstruk­turen, die sich in die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse widerstands­los einfügen bzw. diese Verhältnisse und damit ihre eigene Unterdrückung sogar aktiv unterstützen. Wie läßt sich dieser Zusammenhang zwischen Familienstruktur, Charakterstruktur und Krankheit sexualökonomisch erklären?

Die folgenden Schwerpunkte sind zusätzlich in der PDF-Datei (141k) zu finden:

  • Autoritäre Kleinfamilie, Sexualunterdrückung und Ödipuskomplex

  • Sexualunterdrückung und Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen

  • Autoritärer Charakter und autoritäre Gesellschaft

  • Die politische Funktion der Familie

 

 
Bahro und Reich (1980)
Von Bernd Senf          Vollständiger Artikel als PDF Datei (120k)  

Die Bedeutung Wilhelm Reichs für die Theorie und Praxis der psychosozialen Emanzipation (1) 

„In den Marxismus integriert, ist die gereifte, von ihren bürgerlich-individualistischen Eierschalen und ihren Einseitigkeiten befreite Psychoanalyse besonders in der durch Reich und an­dere weiterentwickelten Gestalt ein wesentlicher Ansatz für die spezifische Theorie und Praxis der Kulturrevolution. Um die Ver­nichtung der Vorurteile gegen sie werden wir einen unserer wichtigsten und hartnäckigsten Kämpfe zu führen haben.
"
Rudolf Bahro: Die Alternative, Köln/Frankfurt am Main 1977, S.347f. 

Bahros Kritik einer repressiven Produktivität 

Rudolf Bahro hat in seinem Buch »Die Alternative« u.a. eine radikale Kritik einer am bloß quantitativen Wachstum orientierten Ökonomie geleistet, in der die Unterdrückung emanzipatorischer Bedürfnisse zur Voraussetzung und zum Produkt der auf Wachstum ausgerichteten Strukturen ist. Daß der Kapitalismus die Unterdrückung emanzipatorischer Bedürfnisse zur Voraussetzung hat, ist seit Marxens Entfremdungstheorie und Kapitalismusanalyse mindestens unter Linken längst bekannt. Daran haben auch die strukturellen Veränderungen des Kapitalismus seit Marx nichts wesentliches geändert, auch wenn der Versuch der Verdrängung dieses Tatbestands durch die bürgerliche ökonomische Theorie (durch zunehmend mathematische Formalisierung und raffiniert-verdrängende Begriffsbildung) immer ausgefeilter wurde. (2) Daß aber auch in Ländern des real existierenden Sozialismus sich Strukturen herausgebildet haben, die - trotz veränderter Eigentumsverhältnisse und trotz vom Kapitalismus unterschiedener gesamtwirtschaftlicher Planungstechniken - einem ganz ähnlichen Produktivitätsverständnis und Wachstumsdenken unterliegen, ist erst durch die Analyse Bahros auf tieferliegende Ursachen zurückgeführt worden. 

Solange die Ausrichtung der Ökonomie und aller gesellschaftlichen Bereiche auf eine Produktivität hin erfolgt, die die Zerstörung menschlicher Produktivität, Kreativität und Entfaltung zur notwendigen Voraussetzung hat und immer wieder hervorbringt, kann von Sozialismus im emanzipatorischen Sinn keine Rede sein. Die Fixierung auf das quantitative Wachstum wird vielmehr zum Alibi für die Aufrechterhaltung rigider, dem Kapitalismus entstammen­der Strukturen des Arbeitsprozesses und damit zur Legitimation von Herrschaft auch unter nach-kapitalistischen Bedingungen: In den Ländern des real existierenden Sozialismus Osteuropas. Die Unterdrückung emanzipatorischer Bedürfnisse durch die rigiden Strukturen des Arbeitsprozesses sowie der darauf vorbereitenden Sozialisation erzeugt immer und immer wieder kompensatorische Bedürfnisse, die ihrerseits zu innerpsychisch in den Massen verankerten Triebkräften weiterer Wachstumsorientierung und weiterer Unterdrückung werden.

Die genaue Analyse des Verhältnisses zwischen emanzipatorischen und kompen-satorischen Bedürfnissen wird damit zum notwendigen Bestandteil einer emanzipatorisch orientierten Kritik nicht nur des Kapitalismus, sondern auch des real existierenden Sozialismus. Die folgenden Ausführungen machen den Versuch aufzuzeigen, daß eine solche Analyse zurückgreifen kann auf in diesem Zusammenhang ganz wesentlichen Ergebnisse der charakteranalytischen und triebökonomischen Forschungen Wilhelm Reichs. Wenn es um die Erarbeitung alternativer sozialistischer Orientierung geht, die frei ist von stalinistischer Deformierung und technokratischer Verirrung, dürfte die Verbindung von Bahro und Reich wesentliche Perspektiven eröffnen - nicht nur auf der Ebene der theoretischen Analyse repressiver Strukturen, sondern auch für den praktischen Kampf für die psycho-soziale Emanzipation des Menschen - im Kapitalismus wie im real existierenden Sozialismus. 

Kompensatorische und emanzipatorische Interessen bei Bahro 

„Die kompensatorischen Interessen auf der einen Seite sind die unvermeidliche Reaktion darauf, dass die Gesellschaft die Entfaltung, Entwicklung und Bestätigung zahlloser Menschen frühzeitig beschränkt und blockiert. Die entsprechenden Bedürfnisse werden mit Ersatzbefriedigungen abgespeist. Man muß sich im Besitz und Verbrauch von möglichst vielen, möglichst (tausch-)wertvollen Dingen und Diensten dafür schadlos halten, dass man in den eigentlich menschlichen Bedürfnissen zu kurz gekommen ist. Auch das Streben nach Macht fällt, als eine Art höherer Ableitung, mit unter die kompensatorischen Interessen. 

Die emanzipatorischen Interessen dagegen richten sich auf das Wachstum, die Differenzierung und die Selbstverwirklichung der Persönlichkeit in allen Dimensionen menschlicher Aktivität. Sie verlangen vor allem die potentiell allumfassende Aneignung der in anderen Individuen, in Gegenständen, Verhaltensweisen, Beziehungen objektivierten menschlichen Wesenskräfte, ihre Verwandlung in Subjektivität, in einen Besitz nicht der juristischen Person, sondern der geistigen und sittlichen Individualität, der seinerseits nach produktiver Umsetzung drängt. " (Bahro: Die Alternative, a.a.O., S.322) 

Die Sucht nach Konsum, die - wie jede andere Sucht - nie wirklich befriedigt werden kann, erzeugt die immer wieder wachsende Notwendigkeit einer Unterwerfung im entfremdeten Arbeitsprozess, um das für den Konsum notwendige Geld zu verdienen. Die entfremdeten Arbeitsbedingungen ihrerseits steigern wiederum die kompensatorischen Bedürfnisse usw.. Aus diesem Zirkel führt keine noch so hohe Steigerung der Produktion heraus, bei der ansonsten die Strukturen des Arbeitsprozesses und der auf ihn vorbereitenden Sozialisation (in Familie, Schule usw.) unverändert rigide bleiben. Im Gegenteil führt ein bloß quantitatives Wachstum der Produktion und die aus diesem Ziel abgeleitete Effizienzorientierung nur zur Reproduktion von Unterdrückung auf immer neuen Ebenen. Diesen Zirkel zunächst auf der Ebene des Denkens radikal durchbrochen und damit angeknüpft zu haben an die emanzipatorische Dimension bei Marx, die unter der stalinistischen Deformation des Marxismus so total verschüttet wurde, ist einer der wesentlichsten Beiträge von Bahro. In seiner »Alternative« hat er herausgearbeitet und untermauert, daß - bei allen Unterschieden in der Form des Eigentums an Produktionsmitteln sowie in den Lenkungsmethoden und Koordinationsmechanismen - auch in den Ländern des real existierenden Sozialismus die damit verbundene Unterdrückung emanzipatorischer Interessen vorherrscht. 

Der Beitrag Reichs im Kampf um die psychosoziale Emanzipation 

Was Bahro in seiner Umschreibung des Verhältnisses zwischen emanzipatorischen und kompensatorischen Bedürfnissen anspricht, knüpft nicht nur an die Marxsche Entfremdungstheorie an, sondern greift implizit zurück auf eine der wesentlichsten Entdeckungen der Freudschen Psychoanalyse bzw. der von Wilhelm Reich weiterentwickelten charakteranalytischen und triebökonomischen Forschungen, deren umwälzende Erkenntnisse auch innerhalb der Linken bis heute weitgehend unbekannt geblieben sind. Soweit Reichs Forschun­gen nicht völlig ignoriert werden, wird er - auch innerhalb der Linken - als „Psychologist" eingestuft und ad acta gelegt oder einfach als „geisteskrank“ abgestempelt - mindestens was seine Entwicklung nach 1933 anbelangt.(3) (An dieser Stelle folgte im Orginalpapier die Darstellung von Reichs Theorie vom Charakterpanzer, ähnlich wie in meinem Artikel »Triebenergie, Charak­terstruktur, Krankheit und Gesellschaft«.)

Sollten die Reichschen Forschungen in ihren wesentlichen Grundaussagen zutreffen, so bieten sie einen Schlüssel zum fundamentalen Verständnis der
Triebkräfte der immer mehr um sich greifenden psychischen und psychosomatischen Massenerkrankung, ebenso wie zum Verständnis der massenhaften Charakterdeformierung, deren Erscheinungsformen nicht zuletzt egoistische, destruktiv-aggressive, unsolidarische und damit der psychosozialen Emanzipation entgegenstehende Verhaltensweisen sind. Nicht nur, daß damit die reaktionäre Ideologie vom natürlichen Egoismus und von der angeborenen Destruktivität des Menschen grundlegend zu Fall gebracht wird - eine Ideologie aus der heraus sich immer wieder die Notwendigkeit von Zucht und Ordnung, von rigiden und autoritären gesellschaftlichen Strukturen zur Bändigung der individuellen Destruktivität legitimiert. Auch für die emanzipatorische Bewegung bieten diese Forschungen einen Ansatzpunkt, über das nur moralisierende Verurteilen unsolidarischer Verhaltensweisen von Genossen hinauszukommen und gezielter die Wurzeln anzugehen, aus denen solche Verhaltensweisen entspringen. Auch im Prozeß des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft stößt der bloß moralisierende Appell an das sozialistische Bewußtsein der Massen ins Leere, wenn nicht gleichzeitig auf allen Ebenen die gesellschaftlichen Bedingungen verändert werden, die egoistisches, unsolidarisches, destruktives Verhalten immer wieder reproduzieren. Allzu oft hat schon die Resignation über die Wirkungslosigkeit moralisierender Appelle entweder zum Rückfall in bürgerliche Motivationshebel geführt (Autorität, materielle Anreize) oder gar zur gewaltsamen (und letztlich doch wirkungslosen) Verordnung des sozialistischen Bewußtseins (wie etwa im Stalinismus, der einem noch größeren Rückfall, nämlich dem in die Barbarei, gleichkommt). Die Auseinandersetzung mit Reich und die Umsetzung seiner Erkenntnisse in den Kampf um die psychosoziale Emanzipation kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, aus den beiden genannten Sackgassen, in die die sozialistische Bewegung historisch immer wieder hineingeraten ist, tendenziell herauszuführen.
 

Über die pauschale Feststellung eines Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher Repression und individueller Erkrankung hinaus bieten die Reichschen Forschungen Aufschlüsselungen. darüber, über welche Vermittlungsschritte sich gesellschaftliche Repression innerpsychisch und innerkörperlich verankert und sich daraus die Formen individueller Erkrankung ergeben. Sie ermöglichen dadurch eine radikale Ideologiekritik der herrschenden Medizin, Psychologie, Psychiatrie und Pädagogik, die mit ihren Forschungen ebenso wie mit ihrer »Therapie« systematisch von der wesentlichen Ursache der Massenerkrankung, der repressiven Struktur der Gesellschaft, ablenken und stattdessen in ihren jeweiligen Bereichen diese Repression teilweise mit brutalsten Mitteln reproduzieren.

Wenn nur einige der von Reich behaupteten Zusammenhänge in ihrem wesentlichen Kern zutreffen, dann wäre das Reichsche Werk von so ungeheurer Relevanz für eine emanzipatorisch orientierte sozialistische Bewegung, daß die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit seinem Werk nicht länger aufgeschoben werden kann bzw. daß der Kampf gegen die diesbezüglichen Vorurteile aufgenommen werden muß. Die umfassende Rezeption des Reichschen Werkes bietet nicht nur - eingebettet in die politökonomische Analyse der marxistischen Theorie - die Grundlage einer um die psychosoziale Dimen­sion erweiterten Kapitalismuskritik, sondern auch die Grundlage für eine emanzipatorisch orientierte Fundamentalkritik der Systeme des real existie­renden Sozialismus.......

Die folgenden Schwerpunkte sind zusätzlich in der PDF-Datei (120k) zu finden:

  • Bahro und Reich: Sensibilisierung für repressive gesellschaftliche Strukturen

  • Entfesselung der psychischen Energien und Emanzipation

 

 

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Version: 24.06.08 20:28:12