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Bernd Senf in
»emotion 5«
- die-wilhelm-reich-zeitschrift
Triebenergie, Charakterstruktur, Krankheit und Gesellschaft

»emotion«
will den Versuch machen, den inneren Zusammenhang der Reichschen Forschungen in möglichst verständlicher Form herauszuarbeiten und deren Bedeutung für die emanzipatorische Bewegung zu diskutieren. Dieser Versuch ist schon deshalb nicht leicht, weil die Forschungen von Reich immer wieder die traditionellen Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen gesprengt haben. 

Die neuste Ausgabe ist beim Ulrich Leutner Verlag zu erhalten!
  

 

 

 


Lust und Lernen
Mein Weg zu einer lebendigen Didaktik
(1982)
Von Bernd Senf
   Vollständiger Artikel als PDF Datei (30 Seiten)

I.   Charakterpanzer, Körperpanzer und Denkpanzer
Die Lustfeindlichkeit der patriarchalischen Gesellschaft führt nicht nur zu emotionaler (charakterlicher und körperlicher) Erstarrung der Menschen, sondern auch zu einer Erstarrung ihres Denkens und zu einer Blockierung ihrer Erkenntnismöglichkeiten. Reich hat sich in seinen Arbeiten vor al­lem mit den Hintergründen und Auswirkungen charakterlicher und kör­perlicher Erstarrung auseinandergesetzt und therapeutische Methoden ent­wickelt, um diese Erstarrungen tendenziell aufzulösen (Widerstandsanaly­se, Charakteranalyse, Vegetotherapie, Orgontherapie). Den Zusammen­hang zwischen emotionaler Erstarrung und Denkerstarrung hat er zwar ge­sehen, aber nur auf einer sehr allgemeinen Ebene in seine Forschungen ein­bezogen.

Mir scheint, dass emotionale Erstarrungen zwar den allgemeinen Boden bilden, auf dem Herrschaftsideologien in den Köpfen der Menschen wach­sen können, dass aber die zunehmende Verfestigung und Verinnerlichung dieser Ideologien einem besonderen Mechanismus unterliegt: der Zerstö­rung der Lust am Lernen, vermittelt über die Zerstörung ganzheitlicher Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse. So wie die Körperlust zerstört wird durch Blockierung gegenüber dem freien Strömen emotionaler Energie im Körper, so wird - das ist meine These - die natürliche Lust am Lernen, am Entdecken und erkenntnismäßigen Durchdringen ganzheitlicher Zu­sammenhänge zerstört durch Blockieren des freien Strömens der »Lern­energie«.

1.   Funktionelle Identität zwischen emotionalem Panzer und Denkpanzer
Mir scheint, dass sich auf den unterschiedlichen Ebenen der emotionalen Blockierung und der Blockierung des Denkens funktionell identische Prozesse vollziehen: Die Zerstörung der Körperlust zerstört das ganzheitliche Körperempfinden, erzeugt charakterliche und körperliche Panzerungen und damit eine emotionale Zersplitterung und legt die Wurzel für psychi­sche und körperliche Krankheiten. Die Zerstörung ganzheitlichen Den­kens und seine Abspaltung von den Emotionen erzeugt entsprechend eine Starrheit im Denken, einen »Denkpanzer«, und damit eine erkenntnis­mäßige Zersplitterung. Während der Kern der emotionalen Panzerungen durch die Unterdrückung der Körperlust schon in der frühen Kindheit ge­legt wird, scheinen mir die Denkerstarrungen vor allem durch die lust­feindliche Disziplinierung des Lernens und Denkens im herrschenden Schulsystem und Wissenschaftsbetrieb verankert bzw. verfestigt zu wer­den. Die Zersplitterung ganzheitlicher Zusammenhänge in einzelne Fächer bzw. wissenschaftliche Disziplinen und die Vorgabe mehr oder weniger starrer Lehrpläne und Stundenabläufe blockieren weitgehend die Möglich­keit lebendiger Lernprozesse.

So wie sich ein emotional gepanzerter Mensch gegen das freie Strömen von emotionaler Energie in seinem Körper blockiert und entsprechende Widerstände zur Aufrechterhaltung seines neurotischen Gleichgewichts entwickelt, so entwickelt ein im Denken gepanzerter Mensch entsprechen­de Widerstände, wenn sein starres Denksystem in seinem Gleichgewicht bedroht ist. Eine solche Bedrohung ist z. B. dann gegeben, wenn die verin­nerlichte Ideologie, wenn das verinnerlichte »Weltbild« durch bestimmte Auffassungen, Informationen, Theorien und Interpretationen ins Wanken geraten bzw. gar in seinem Kern erschüttert werden könnte.

Bezüglich der Auflösung emotionaler Erstarrungen hat Reich deutlich herausgearbeitet, dass ein zu abruptes Aufbrechen einzelner Panzerungen zu panikartigen Reaktionen und zu einer noch stärkeren Erstarrung des Organismus führen kann. Die gleiche Gefahr scheint mir gegeben, wenn versucht wird, sozusagen mit der »ideologischen Brechstange« an die Auf­lösung erstarrter Denkstrukturen, an die Erschütterung einer verinnerlich­ten Ideologie eines Menschen oder gar ganzer Gruppen heranzugehen. Ebenso wie bei der Auflösung emotionaler Erstarrungen ist auch bei der Auflösung von Denkerstarrungen sehr behutsam vorzugehen, wenn leben­dige Lernprozesse und ein lebendiges Denken wieder in Bewegung kom­men sollen. Ich möchte die Methode, die auf die Freisetzung lebendiger Lernprozesse gerichtet ist, »lebendige Didaktik« nennen. Sie wird sich we­sentlich zu unterscheiden haben von der »starren Didaktik«, von der der herrschende Schul- und Wissenschaftsbetrieb geprägt ist. Die Anwendung einer »starren Didaktik«, die Vorgabe eines inhaltlich aufgesplitterten, star­ren Lehrplans und Stundenablaufs und damit verbundener Prüfungen, zer­stört nicht nur lebendige Lernprozesse, sondern bricht auch noch die offe­ne oder (in Form von Lernstörungen) unbewusste Auflehnung des Lernen­den mit dem Mittel des Prüfungsdrucks. Unter solchen Bedingungen wird nicht mehr gelernt aus Interesse oder Neugier, sondern nur noch für die Prüfungen. Vielen Erwachsenen fällt entsprechend die Vorstellung schwer, dass Lernen überhaupt Spaß machen kann. Sie haben sich daran gewöhnt, nur unter Druck zu lernen - und dabei mehr oder weniger an sich selbst zu (ver-)zweifeln. Meine These, die sich auf 15 Jahre Lehrererfahrung mit Erwachsenen gründet, ist hingegen die, dass sich verschüttete Lust am Ler­nen tendenziell wieder freilegen läßt, dass erstarrtes Denken wieder in Be­wegung kommen kann. Ich will weiter unten darstellen, wie sich für mich selbst die Möglichkeit einer »lebendigen Didaktik« immer klarer herausge­schält hat. 

2.   Zum Verhältnis von Therapie und ideologischer Erstarrung
Unter Therapeuten (auch solchen, die sich in ihrer Arbeit an Reich orien­tieren) wird vielfach die Auffassung vertreten, dass eine Auflockerung der emotionalen Panzerung von selbst auch zu einer Auflockerung erstarrten Denkens führt. Mir scheint dieser Zusammenhang nicht notwendig gege­ben. Die herrschende Ideologie ist so tief in den Strukturen unseres Den­kens verankert, dass sie sich nicht von selbst auflöst, wenn die emotionale Struktur in Bewegung kommt. Auch eine (in bezug auf die Lockerung emotionaler Blockierung) wirksame Therapie befreit uns nicht von den Verblendungen, die wir aufgrund der herrschenden Ideologie in unseren Köpfen haben und die uns mehr oder weniger blind machen gegenüber den tieferen Wurzeln der gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen. (Das zeigt sich für mich auch daran, dass viele Therapeuten die kapitalistische Ideolo­gie voll verinnerlicht haben und sie vielfach sogar zur Rechtfertigung ihrer eigenen materiellen Interessen heranziehen.)

Ich stelle demgegenüber die These auf, dass die Erstarrung des Denkens auf der Ebene des Denkens selbst angegangen werden muss, um die ver­schüttete Möglichkeit eines lebendigen, ganzheitlichen Denkens wieder freizulegen. Die Auflockerung der emotionalen Blockierungen (insbesonde­re der Blockierung des Augensegments) kann zwar eine notwendige Vor­aussetzung sein, um beim Einzelnen den mehr oder weniger gestörten Kontakt zur Realität  wiederherzustellen. Aber die emotionale Öffnung wirkt sich zunächst einmal nur auf eine veränderte Wahrnehmung der un­mittelbaren Realität der »Alltagserfahrung« aus. Sie reicht noch nicht hin, um auch »die Augen zu öffnen« gegenüber den dahinter sich verbergenden gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen. Die Wahrnehmung dieser umfas­senden gesellschaftlichen Realität ist nämlich mehr oder weniger verzerrt durch die erstarrten Interpretationsmuster, die in Form der herrschenden Ideologie im Kopf verankert sind und durch die grundlegende Zusammen­hänge und Konflikte der gesellschaftlichen Realität aus der Wahrnehmung ausgeblendet und aus dem Bewusstsein verdrängt werden.

Das Vertrauen darauf, allein über Therapie nicht nur die emotionalen, sondern auch die ideologischen Erstarrung aufzulösen, scheint mir unbe­gründet und unhaltbar, scheint mir selbst schon wieder Ausdruck einer neuen Ideologie zu sein. Die therapeutische Selbstveränderung bringt nicht von selbst die Erleuchtung über die Struktur der gesellschaftlichen Verhält­nisse (z.B. über die tieferliegenden ökonomischen Bewegungsgesetze) mit sich. Die Selbstveränderung vieler Menschen bringt auch noch nicht von selbst die Veränderung ökonomischer und gesellschaftlicher Verhältnisse hervor. Damit sich die gesellschaftlichen Strukturen verändern, müssen sich Menschen in die gesellschaftlichen Prozesse, in die sozialen Auseinan­dersetzungen mit einmischen. Aber wo und wie sich die Einzelnen einmi­schen, was sie mit ihren frei gewordenen Energien anfangen, ist sehr stark geprägt von der verinnerlichten Ideologie, d.h. davon, wie gesellschaftliche Konflikte wahrgenommen und interpretiert bzw. wie sehr diese Konflikte aus dem Bewusstsein verdrängt werden.

Dies alles sind keine Argumente gegen Therapie. Eine gute Therapie kann Erstarrung auf den Ebenen auflösen, auf denen sie arbeitet: auf der Ebene charakterlicher und körperlicher Panzerungen. (Und sie kann dazu beitragen, die Abspaltung des Denkens vom Fühlen zu überwinden.) An­dere Erstarrungen müssen entsprechend auf anderen Ebenen und mit ande­ren Mitteln angegangen und aufgelöst werden: Denkerstarrungen auf der Ebene von Denkprozessen, gesellschaftliche Erstarrungen auf der Ebene gesellschaftlicher Prozesse. Das heißt nicht, dass diese Ebenen strikt von­einander getrennt sind, sie hängen vielmehr wechselseitig miteinander zu­sammen, stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Aber die Verfestigung der erstarrten Strukturen unterliegt auf den einzelnen Ebenen jeweils besonderen Gesetzen, die für die jeweiligen Ebenen typisch sind. Das Gemeinsame liegt in den Erstarrungen, die Unterschiede liegen in den Formen ihrer Verankerung und in den Wegen zu ihrer Auflösung. Eine umfassende Befreiung des Lebendigen kann nur in dem Maße gelingen, wie alle Ebenen der Erstarrung mit in den Veränderungsprozess einbezogen werden. Jede Beschränkung auf nur eine Ebene und das blinde Vertrauen darauf, dass die Veränderung auf einer Ebene von selbst auf andere Ebenen übergreift, wird immer wieder in eine Sackgasse führen.

Um die Auflösung von Denkerstarrungen soll es im folgenden gehen. Ich will dabei versuchen, anhand der Darstellung meines eigenen Weges durch den Wissenschaftsbetrieb eine Methode herauszuarbeiten, die sich für mich im Bereich Ökonomie und Sozialwissenschaften immer deutlicher heraus­kristallisiert hat und von der ich glaube, dass sie auch auf andere Bereiche entsprechende Anwendung finden kann - eine Methode, die darauf ge­richtet ist, erstarrtes Denken wieder in Bewegung zu bringen. Ich hoffe, mit meinen Ausführungen ansatzweise verdeutlichen zu können, wie mit der vorherrschenden Art des Lernens im Schul- und Wissenschaftsbetrieb die Lust am Lernen systematisch zerstört wird. Aber diese Erkenntnis allein wäre nur bedrückend. Es geht mir um mehr: Es geht mir darum aufzu­zeigen, dass es Möglichkeiten gibt, diesen Zerstörungsprozess aufzuhalten und umzukehren; dass es tendenziell möglich ist, lebendiges Lernen aus den Fesseln erstarrter Strukturen zu befreien. In dem Maße, wie dies gelingt, wird lebendiges Lernen zu einer erregenden Entdeckungsreise, die aller­dings nicht mehr Halt macht vor den erkenntnismäßigen Tabus der herr­schenden Wissenschaft, Ideologie und Moral, sondern immer weiter vordringt zu den tieferen Wurzeln bestehender Herrschaftsverhältnisse, zu den tieferen Wurzeln der Unterdrückung des Lebendigen.

Die folgenden Schwerpunkte sind zusätzlich in der PDF-Datei (30 Seiten) zu finden:

  • Mein eigener Weg aus den Verwirrungen herrschender Ideologie

  • Ökonomiestudium als Vernebelung

  • Die Wiederentdeckung der Lust am Lernen

  • Mein Weg zu einer radikalen Gesellschaftskritik

  • Anpassungsdruck und dogmatische Erstarrung

  • Charakteranalytische Grundlagen von Denkprozessen

  • Zur Bedeutung und Handhabung von Lernwiderständen

  • Lebendige Didaktik und Emanzipation

  • Konkretes Beispiel einer lebendigen Didaktik: Keynesianismus und Rüstungskapitalismus

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Version: 24.06.08 20:24:24