DIE
ZEIT 47/2004
»Wo bleibt Euer Aufschrei?«
In der globalen Wirtschaft herrscht die pure Anarchie. Die Gier
zerfrisst den Herrschern ihre Gehirne. Ein Wutanfall
Von Heiner Geissler
»Das Kapital hat die Bevölkerung agglomeriert, die
Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen
konzentriert. Die Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind
eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen
Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes
ausgesetzt.« Karl Marx/Friedrich Engels, 1848, »Manifest der
Kommunistischen Partei«
146 Jahre später warten in Deutschland – als ob es nie eine
Zivilisierung des Klassenkampfes gegeben hätte – Zehntausende von
Arbeitern auf den nächsten Schlag aus den Konzernetagen von General
Motors, Aventis, Volkswagen und Continental, der sie in die
Arbeitslosigkeit und anschließend mit Hilfe der Politik auf die
unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter befördert.
Nicht das Gespenst des Kommunismus, vielmehr die Angst geht um in Europa
– gepaart mit Wut, Abscheu und tiefem Misstrauen gegenüber den
politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten, die ähnlich
den Verantwortlichen in der Zeit des Übergangs vom Feudalismus in die
Industriegesellschaft offensichtlich unfähig sind, die unausweichliche
Globalisierung der Ökonomie human zu gestalten.
Unter Berufung auf angebliche Gesetze des Marktes reden sie vielmehr
einer anarchischen Wirtschaftsordnung, die über Leichen geht, das Wort.
100 Millionen von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen in Europa und den
USA und 3 Milliarden Arme, die zusammen ein geringeres Einkommen haben
als die 400 reichsten Familien der Erde, klagen an: die Adepten einer
Shareholder-Value-Ökonomie, die keine Werte kennt jenseits von Angebot
und Nachfrage, Spekulanten begünstigt und langfristige Investoren
behindert. Sie klagen an: die Staatsmänner der westlichen Welt, die
sich von den multinationalen Konzernen erpressen und gegeneinander
ausspielen lassen. Sie klagen an: ein Meinungskartell von Ökonomieprofessoren
und Publizisten, die meinen, die menschliche Gesellschaft müsse
funktionieren wie DaimlerChrysler, und die sich beharrlich weigern,
anzuerkennen, dass der Markt geordnet werden muss, auch global Regeln
einzuhalten sind und Lohndumping die Qualität der Arbeit und der
Produkte zerstört.
Die Arbeiter in den Industriestaaten und ihre Gewerkschaften, die
angesichts der Massenarbeitslosigkeit mit dem Rücken an der Wand
stehen, fühlen sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Menschen
beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre Hirne zerfrisst. Die
Menschen leben und arbeiten in einer globalisierten Ökonomie, die eine
Welt der Anarchie ist – ohne Regeln, ohne Gesetze, ohne soziale Übereinkünfte,
eine Welt, in der Unternehmen, Großbanken und der ganze »private
Sektor« unreguliert agieren können. Die globalisierte Ökonomie ist
auch eine Welt, in der Kriminelle und Drogendealer frei und ungebunden
arbeiten und Terroristen Teilhaber an einer gigantischen Finanzindustrie
sind und so ihre mörderischen Anschläge finanzieren.
Wo bleibt der Aufschrei der SPD, der CDU, der Kirchen gegen ein
Wirtschaftssystem, in dem große Konzerne gesunde kleinere Firmen wie
Kadus im Südschwarzwald mit Inventar und Menschen aufkaufen, als wären
es Sklavenschiffe aus dem 18.Jahrhundert, sie dann zum Zwecke der
Marktbereinigung oder zur Steigerung der Kapitalrendite und des Börsenwertes
dichtmachen und damit die wirtschaftliche Existenz von Tausenden mitsamt
ihren Familien vernichten? Den Menschen zeigt sich die hässliche Fratze
eines unsittlichen und auch ökonomisch falschen Kapitalismus, wenn der
Börsenwert und die Managergehälter – an den Aktienkurs gekoppelt –
umso höher steigen, je mehr Menschen wegrationalisiert werden. Der
gerechte, aber hilflose Zorn der Lohnempfänger richtet sich gegen die
schamlose Bereicherung von Managern, deren »Verdienst«, wie sogar die FAZ
schreibt, darin besteht, dass sie durch schwere Fehler Milliarden von
Anlagevermögen vernichtet und Arbeitsplätze zerstört haben.
Das Triumphgeheul des Bundesverbandes der Deutschen Industrie über die
Billiglohnkonkurrenz aus dem Osten noch in den Ohren, müssen
marginalisierte und von der Marginalisierung bedrohte Menschen sich vom
politischen und ökonomischen Establishment als Neonazis und Kommunisten
beschimpfen lassen, wenn sie radikale Parteien wählen, weil es keine
Opposition mehr gibt und sie sich mit einer Großen Koalition
konfrontiert sehen, die offensichtlich die Republik mit einem
Metzgerladen verwechselt, in dem so tief ins soziale Fleisch geschnitten
wird, dass das Blut nur so spritzt, anstatt durch Bürgerversicherung
und Steuerfinanzierung die Löhne endlich von den Lohnnebenkosten zu
befreien. Nur Dummköpfe und Besserwisser können den Menschen
weismachen wollen, man könne auf die Dauer Solidarität und
Partnerschaft in einer Gesellschaft aufs Spiel setzen, ohne dafür
irgendwann einen politischen Preis bezahlen zu müssen. Warum wird
tabuisiert und totgeschwiegen, dass es eine Alternative gibt zum
jetzigen Wirtschaftssystem: eine internationale sozial-ökologische
Marktwirtschaft mit geordnetem Wettbewerb?
Ideen verändern die Welt.
Auch in einer globalen Wirtschaft sind Produktion und Service ohne
Menschen nicht möglich. Neue Produktionsfaktoren wie Kreativität und
Wissen sind hinzugekommen. Aber das Spannungsverhältnis zwischen Mensch
und Kapital ist geblieben. Die Kommunisten wollten den Konflikt lösen,
indem sie das Kapital eliminierten und die Kapitaleigner liquidierten.
Bekanntlich sind sie daran gescheitert. Heute eliminiert das Kapital die
Arbeit. Der Kapitalismus liegt derzeit genauso falsch wie einst der
Kommunismus.
Der Tanz um das Goldene Kalb ist schon einmal schief gegangen.